Donnerstag, 29. Juni 2017

Mary Poppins (Musical) - Rezension

2004 feierte das "Disney"-Musical "Mary Poppins" Weltpremiere am Londoner West End. Seit Oktober 2016 läuft es nun erstmalig in Deutschland im Stuttgarter "Apollo Theater". Als eingefleischter Musicalfan wollte ich das Stück schon eine ganze Weile lang sehen. Am 25. Juni war es endlich soweit. Wer ebenfalls Interesse an "Mary Poppins" hat, kann sich freuen. Es läuft zwar gerade in Stuttgart aus, doch danach zieht es direkt weiter in Deutschlands Musical-Metropole Hamburg. 
An dieser Stelle möchte ich darauf hinweisen, dass sich meine Rezension ausschließlich auf die Nachmittagsvorstellung am 25. Juni 2017 und deren Besetzung bezieht. Die Bilder im folgenden Post sind offizielle Promofotos und zeigen nicht zwangsläufig die Stuttgarter Produktion oder die Besetzung, die ich gesehen habe.

Zwischen Buch und Film

Momentan noch in Stuttgart, bald in Hamburg
Foto: Katrin Mertens
Mary Poppins ist ein Kindermädchen, das eines Tages bei der Londoner Familie Banks auftaucht. Die Eltern sind mit der Erziehung ihrer beiden Kinder Jane und Michael überfordert und nehmen gerne die Hilfe der Nanny an, nachdem etliche Vorgängerinnen bereits gekündigt haben. Schnell bemerken Jane und Michael, dass Mary Poppins kein gewöhnliches Kindermädchen ist. Sie hat magische Fähigkeiten und kennt allerlei ungewöhnliche Menschen. 
Die Geschichte hat sich die australische Autorin P. L. Travers ausgedacht. Zwischen 1934 und 1988 veröffentlichte sie mehrere Bücher mit ihrer außergewöhnlichen Protagonistin. 1964 brachte "Disney" einen Spielfilm heraus, der lose auf den Geschehnissen des ersten Romans beruht. Travers war mit dem Ergebnis nicht zufrieden und weigerte sich die Filmrechte der anderen Bücher zu verkaufen.

v.l.: Jane, Bert, Michael und Mary auf dem Dach
Foto: Stage Entertainment
Das Musical folgt größtenteils der Handlung des "Disney"-Films, enthält jedoch auch Teile der Originalgeschichte, die es nicht in die Verfilmung geschafft haben. Am besten hat mir hier gefallen, dass Mary Poppins deutlich strenger ist. Travers hat am Film vor allem bemängelt, dass ihr striktes, eitles und uneinsichtiges Kindermädchen viel zu süßlich und lieb gewesen sei. Im Musical hat die Protagonisten einen großen Teil ihrer Strenge zurück erlangt. Sie verschwindet beispielsweise einfach, als sie das Gefühl hat, dass Jane und Michael undankbar sind und nimmt das Spielzeug der beiden mit. Als Kind habe ich den Film gerne geguckt, fand es aber immer seltsam, dass die Nannys in Scharen vor den Banks-Geschwistern geflohen sind. Die wirkten immer so brav und niedlich. Im Musical sind sie das auf gar keinen Fall. Michael ist frech und vorlaut, während Jane jeden herumkommandiert und auf Menschen herabsieht, die einer niedrigeren sozialen Schicht angehören.
Tanzszene in der "Gesprächsstoffhandlung"
Foto: Stage Entertainment
Es wird ebenfalls auf die Jugend der Banks-Eltern eingegangen, wodurch die Probleme der Familie im Musical deutlicher und greifbarer werden als im Film. Dennoch gibt es auch Änderungen, die mich gestört haben. So ist Mrs. Banks keine Suffragette, also Frauenrechtlerin, mehr, sondern eine ehemalige Schauspielerin, die sich nur noch ihrem Mann und dem Haushalt widmet. Das ist leider ein Schritt in die falsche Richtung - hin zu einer veralteten Denkweise, gegen die im Film von 1964 noch protestiert wurde. Diese altmodische Entwicklung ist auch seltsam, da die restlichen Szenen sehr bunt und überdreht sind. Die Sequenz mit den Karussellpferden wurde beispielsweise durch eine Erzählung aus dem Buch ersetzt, in der Mary Poppins mit den Kindern die "Gesprächsstoffhandlung" von Mrs. Corry besucht. In einer farbenfrohen Tanzsequenz bilden die drei hier das berühmte Wort "Supercalifragilisticexpialigetisch" aus Buchstaben, die sie in dem Laden gekauft haben. Ich persönlich hatte das Gefühl, dass die einzelnen Szenen zum Teil etwas zusammenhangslos sind und die eigentliche Kernhandlung aus dem Fokus gerät. Besonders das Ende wirkt eher gehetzt. Das Verhalten der Hauptcharaktere dreht sich viel zu schnell und ohne Erklärung um 180 Grad. Das ist nicht sonderlich glaubhaft und schwächt die Moral der Geschichte, da nicht deutlich herausgearbeitet wird, was die einzelnen Mitglieder der Familie Banks zum Umdenken bewegt hat.

"Völlig ohne Fehler"

Mary Poppins ist vollkommen perfekt
Foto: Stage Entertainment
So heißt das Lied, mit dem sich Mary Poppins bei den Kindern vorstellt. Darin bezeichnet sie sich mehrfach als "völlig ohne Fehler", "perfekt" und "anständig". Dass Jane und Michael ihr hochmütiges Verhalten bald nachäffen, kann man ihnen kaum verdenken. Obwohl Mary eigentlich die Hauptperson der Geschichte ist, habe ich das Gefühl, dass sie nur sporadisch im Fokus steht. Die Familie Banks und auch Bert scheinen deutlich präsenter zu sein. An den Darstellern liegt das jedoch nicht. Ausnahmslos alle haben in meinen Augen tolle, passende Stimmen und stellen ihre Rollen mit großer Freude dar. Allen voran Masha Karell als Miss Andrew, das eiskalte, ehemalige Kindermädchen von George Banks, das nun auf dessen Kinder aufpassen soll. Karell spielt die grausame Nanny so herrlich böse und gruselig, dass man die Angst der anderen Charaktere gut nachvollziehen kann. Besonders spannend ist die Szene, in der Miss Andrew Mary Poppins begegnet. Die jüngere Frau jagt ihre bösartige Konkurrentin mit Magie aus dem Haus. Hier zeigt sich eine andere Facette der titelgebenden Hauptfigur. Denise Jastraunig, Darstellerin von Mary Poppins, lässt ihre Rolle beinahe so unheimlich und gnadenlos wirken wie Gegenspielerin Miss Andrew. Außerdem hat sie eine angenehme Gesangsstimme, die sowohl herrisch ("Spielt euer Spiel") als auch sanft ("Die Vogelfrau") und gelöst ("Supercalifragilisticexpialigetisch") klingen kann. Dasselbe gilt für David Boyd ("Bert"), Livio Cecini ("George Banks") und Jennifer van Brenk ("Winifred Banks"). 
Mit Gesang macht das Aufräumen mehr Spaß
Foto: Theatre Royal Plymouth
Besonders in Erinnerung bleiben die beiden Kinderdarsteller: Namira Reber als Jane und Zinedine Strasser als Michael Banks. In den meisten Musicals wird auf minderjährige Rollen verzichtet. In den wenigen, die es gibt, fungieren Kinder meist nur als schmückendes, vorwiegend stummes Beiwerk, das nur für einige große Ensemblenummern auf die Bühne geholt wird (beispielsweise "Florian" in "Ich war noch niemals in New York") oder als junge Version der Hauptcharaktere, die gänzlich verschwindet, sobald die Rolle erwachsen ist (beispielsweise "kleine Nala" und "kleiner Simba" in "Der König der Löwen"). Jane und Michael Banks sind jedoch in vielen Szenen und Tanznummern dabei und haben eigene Songs. Namira und Zinedine wirken sehr sicher und harmonieren toll mit ihren älteren Kollegen. Obwohl sie lieb und niedlich wirken, spielen sie die verwöhnten, hochnäsigen und frechen Seiten ihrer Figuren so überzeugend, dass man sie in diesen Szenen gerne maßregeln möchte. Ein großes Lob auch für die bunte, internationale Zusammensetzung des ganzen Ensembles, das man dennoch ohne jegliche Probleme verstehen kann.


Tolles Bühnendesign trifft auf mittelmäßigen Soundtrack

Noch ohne Requisiten: Das Haus der Familie Banks
Foto: Disney Video
"Mary Poppins" besticht vor allem durch die Optik. Neben den farbenfrohen Kostümen, fällt besonders das Bühnenbild ins Auge. Das Stück beginnt mit einem atemberaubenden Sternenhimmel und den Schornsteinen auf Londons Dächern. Danach wechselt das Setting vor allem zwischen dem Park, der mit lediglich einem Metalltor und einer Statue relativ unspektakulär aussieht und dem Zuhause der Familie Banks. Das ist ein großes, aufklappbares Puppenhaus, das sich drehen lässt und verschiedene Räume offenbart. Alles ist liebevoll detailliert gestaltet und passt vom Stil her perfekt zu den 1910er Jahren, in denen die Geschichte spielt. Auch die Effekte sind toll. Der Kamin im Kinderzimmer katapultiert jeden, der in ihn hineinklettert, sofort aufs Dach und das Küchenequipment kann in wenigen Sekunden kaputt gehen und sich wieder selbst reparieren. Besonders die Szene, in der Mary Poppins Miss Andrew eine Lektion erteilt, ist toll choreografiert. Die Bühne nimmt verschiedene Farben an, je nachdem welche der Frauen gerade die Oberhand hat. Weiterhin lässt Mary ihre Gegenspielerin durch die Gegend wirbeln und zwingt sie mit Magie in einen Käfig. Die Effekte sind herrlich unheimlich, weshalb es verständlich ist, dass das Musical ab einem Alter von 7 Jahren empfohlen wird und Kinder unter 3 Jahren keinen Zutritt haben. 
Mary (r.) erteilt Miss Andrew eine Lektion
Foto: Pacific Conservatory Theatre
Was mich am Stück deutlich gestört hat, war der Soundtrack. Die meisten Songs aus dem "Disney"-Film wurden zwar übernommen, aber etwas abgeändert. Der Text von "Supercalifragilisticexpialigetisch" besteht beispielsweise zu einem großen Teil aus dem Buchstabieren des Wortes, was nach der vierten oder fünften Wiederholungen langweilig wird. Auch die Position der Songs ist anders. Das Stück "Drachensteigen" wird beispielsweise am Ende des Films von der endlich vereinten Familie Banks gesungen. Im Musical kommt es bereits zu Beginn des zweiten Akts vor und ist hier ein Duett zwischen Bert und den Kindern, was dem Lied den emotionalen Kontext der glücklichen Familie nimmt. Da ein Bühnenmusical aus deutlich mehr Songs besteht, als ein Film, wurden etliche neue Lieder, darunter "Völlig ohne Fehler" und Miss Andrews Solo "Krautsaft und Fischöl", geschrieben. Für mich war davon leider keins auch nur annähernd so berührend oder eingängig wie die Musikstücke aus dem Film. Da einige Handlungsstränge im Musical fehlen, sind auch die dazugehörigen Lieder gestrichen worden, darunter "Wir sind die Kämpfer fürs Frauenrecht" und "Ich lach so gern". Ich habe mich daher gefreut, dass mein Lieblings-"Mary Poppins"-Stück "Die Vogelfrau" weitestgehend unangetastet blieb. 

Fazit

"Mary Poppins" ist ein farbenfrohes, verrücktes und familienfreundliches Musical. Fans des "Disney"-Films sollten sich bewusst sein, dass das Stück kein eins zu eins Remake ist, sondern sich nur im Kern an der Verfilmung orientiert. Liebhaber der Originalgeschichten werden sich hingegen freuen, dass das Musical deutlicher auf P. L. Travers Vorstellungen eingeht als der Film. Die Handlung ähnelt dem Aufbau der "Mary Poppins"-Bücher: Einige kurze Erzählungen anstelle eines einzigen Abenteuers mit rotem Faden. Das ist schade, da man so wenig über die Charaktere und ihre Entwicklung erfährt. Sie bleiben einseitig - genau wie der Soundtrack. Viele der bekannten Lieder aus dem "Disney"-Film wurden leider verändert, um vom Stil her zu den neuen zu passen. Dennoch bleiben Melodie und viele Refrains gleich, sodass man noch immer mitsingen kann. Vor allem visuell besticht das Musical - durch tolle Projektionen, eine übers Publikum fliegende Protagonistin, wunderschöne Bühnenbilder und allerhand magische Effekte. Letztendlich ist "Mary Poppins" nicht das beste Musical aus dem Hause "Disney": Nicht so berührend wie "Der König der Löwen" und nicht so ein schöner Soundtrack wie bei "Tarzan", doch mit Stücken wie "Aladdin" und "Die Schöne und das Biest" hält es durch seine tolle Optik, den Humor, die bekannten Kindheits-Melodien und den ansteckenden Enthusiasmus der talentierten Darsteller locker mit.


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Für alle Interessierten, hier noch der Trailer:



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