Donnerstag, 15. Juni 2017

Die Überfahrt (Mats Strandberg) - Rezension

"Die Überfahrt" ist ein Thriller des schwedischen Autors Mats Strandberg und wurde im Jahr 2015 veröffentlicht. Die deutsche Ausgabe erschien 2017 im Fischer Verlag und hat insgesamt 503 Seiten.

Die "Baltic Charisma" ist eine Fähre, die seit vielen Jahren täglich zwischen Schweden und Finnland verkehrt. Die Passagiere machen die eintägige "Kreuzfahrt" vor allem aus drei Gründen: Party, Sex und Alkohol. Die "Charisma" ist zu einem Partyschiff verkommen, das mit günstigen alkoholischen Getränken, Pubs, Tanzflächen und einer Karaokebar lockt ("Selbst diejenigen, die euphorisch grölen und johlen, jagen ihr Angst ein. Sie hat den Eindruck, als könnte die Stimmung jeden Moment umschlagen."). 
Die Handlung begleitet immer wieder unterschiedliche Charaktere. Die Zentralen sind, jedenfalls laut Klappentext, Dan Applegren, ein ehemaliger Schlagerstar, der nun das Karaoke moderiert und sich seinen Abstieg mit Drogen und Groupies zu erleichtern versucht. Außerdem Partygirl Madde, die alleinstehende Marianne und Calle, der früher an Bord gearbeitet hat und hier nun seinem Freund einen Heiratsantrag machen möchte. Die letzte Hauptperson ist der 12-jährige Albin, der unter den Spannungen in seiner Adoptivfamilie leidet. Sie alle haben nichts gemeinsam und verbringen ihre Zeit auf der "Charisma" völlig unterschiedlich. Doch ihre Wege kreuzen sich, als in der Nacht eine Katastrophe über das Schiff hereinbricht und die Passagiere ums Überleben kämpfen müssen.


Verschiedene Perspektiven 

Das "Grauen" sind nicht die Felsen
Foto: Fischer Verlag
Was an Strandbergs Schreibstil bereits auf den ersten Seiten auffällt, ist die Zeitform. "Die Überfahrt" ist nämlich, ungewöhnlich für einen Roman, in der Gegenwartsform anstelle des Präteritums geschrieben. Am Anfang ist das ungewohnt, nach ein paar Dutzend Seiten fällt es jedoch kaum noch auf. Ansonsten ist der Stil eher unauffällig. Man stolpert nicht über die Worte, sie sind jedoch auch nicht besonders fesselnd. Die Geschichte wird zwar ausschließlich in der dritten Person erzählt, aber jeweils aus der Perspektive einer anderen Figur. Die Kapitel sind dementsprechend kurz und starten mit der Angabe, um wessen Sicht es sich handelt. Durch die ständigen Wechsel, soll die Handlung dynamisch bleiben, sie bremst sich jedoch eher selbst aus. 
Die Charaktere begegnen sich immer wieder und beschreiben einander. Leider hat Strandberg hier kaum innovative Ideen. Dieselbe Person wird von unterschiedlichen Protagonisten immer gleich beschrieben. So spricht jeder über Albin als "etwa 12-jähriger, asiatisch aussehender Junge" und über seine Cousine Lo als "hübsches, blondes Mädchen, das vermutlich ein paar Jahre älter ist als er oder durch Make-up einfach älter wirkt". Es mag realistisch sein, dass die meisten Menschen andere auf solche Äußerlichkeiten reduzieren, jedoch ist es ermüdend, dieselben Beobachtungen immer wieder zu lesen, teilweise sogar in fast identischem Wortlaut. Vor allem da es unglaubwürdig erscheint, dass die Charaktere, die sich in Alter und Lebensgeschichte drastisch unterscheiden, alle dieselben Attribute beschreiben. Ein 12-jähriger Schüler sieht die Welt anders als eine Rentnerin oder ein vergrämter Schlagerstar am Ende seiner Karriere. Von den Wiederholungen abgesehen, sind die Perspektivwechsel eine nette Idee. Denn so lernt man die Akteure von verschiedenen Seiten kennen. Ein etwas plumpes, aber eindrückliches Beispiel ist Madde. Aus ihrer Sicht wird geschildert, wie sie sich für die Party in Schale wirft, schminkt und vor dem Spiegel kokettiert. Sie ist zufrieden mit ihrem Äußeren und findet sich sexy. Andere Personen beschreiben, dass sie sehr dick ist und ein unvorteilhaftes Kleid trägt, das kaum ihren Hintern bedeckt. Während man durch diese Sichtwechsel viel über die Protagonisten erfährt und an vielen kleinen Geschichten teilnimmt, gibt es auch eine Sicht, die "Baltic Charisma" heißt und keiner bestimmten Person zugeordnet ist. Hier werden zum Teil generelle Geschehnisse thematisiert, aber auch auf Charaktere eingegangen. Die werden allerdings sehr komisch umschrieben zum Beispiel "der Mann namens..." oder "die Person, über die zeitgleich im Restaurant gesprochen wird". Diese Kapitel wirken sehr künstlich und man gerät an den Stellen leicht aus dem Lesefluss, da sie einfach nicht in die Geschichte passen wollen. Sie dienen lediglich dazu auf das "Grauen" einzugehen, bevor die Akteure es bemerken und selbst beschreiben können.

Die Figuren an sich sind überraschend abwechslungsreich. Man lernt viele unterschiedliche Personen kennen, die auch immer wieder auftauchen. Jeder hat eine eigenständige Persönlichkeit und unterscheidet sich durch seine Lebensgeschichte von den anderen. Leider vertut Strandberg die Chance, sie auch anhand der Sprache und des Ausdrucks zu differenzieren. Wie bereits eingangs geschildert, ähneln sich die Beobachtungen und Gedanken der Figuren teilweise so deutlich, dass man sie in einigen Szenen unbemerkt gegeneinander austauschen könnte. Das ist schade, da sie so einen Teil ihrer Individualität einbüßen und ihre Gedanken nicht immer zu ihrem Alter und ihrer Lebensgeschichte passen. Außerdem gibt es letztendlich zu viele Akteure, um allen Tiefe zu verleihen und ihre Geschichten würdig zu Ende zu erzählen. Hier wäre es übersichtlicher gewesen, sich ausschließlich auf eine Handvoll Protagonisten zu konzentrieren und sich dafür intensiver mit ihnen zu beschäftigen. Man lernt die Personen hauptsächlich über ihre Probleme und Party-Angewohnheiten kennen, das macht sie nicht sympathisch genug, um mit ihnen zu leiden, als sich das "Grauen" nähert. Lediglich um Pia, die Securityfrau, habe ich mir Sorgen gemacht, da sie offen herzlich und kompetent ist.

Das grauenhafte "Grauen"

Eine Karte des Schiffs findet sich im Einband
Foto: Katrin Mertens
Ich bin ein großer Fan der isländischen Autorin Yrsa Sigurðardóttir. In ihrem Krimi "Todeschiff" (2012) geht es um ein ähnliches Szenario: Eine Jacht treibt führerlos in den Hafen von Reykjavík. Die vier Passagiere und drei Besatzungsmitglieder sind verschwunden. Ein Teil der Handlung spielt in der Gegenwart, im anderen wird in Rückblicken das Schicksal der sieben Menschen geschildert. Das Buch hat mich beim Lesen gefesselt und bis zur letzten Seite begeistert. Der Plot von "Die Überfahrt" klingt ähnlich, das war einer der Hauptgründe, weshalb ich den Roman gekauft habe. Leider hat er mich bitter enttäuscht. Der Beginn, als die Charaktere am Hafenterminal vorgestellt werden, ist durchaus interessant und macht Lust auf die kommenden Kapitel. Doch nachdem das Schiff abgelegt hat, dreht sich die Handlung erst einmal lange um das Schiff und die Reisenden. Wie bereits angedeutet, ähneln sich die Schilderungen der einzelnen Personen sehr. Die Mitarbeiter berichten darüber, wie anstrengend es ist, jeden Tag mit über 1.000 besoffenen Passagieren auf engstem Raum eingepfercht zu sein. Die Hauptpersonen stürzen sich währenddessen ins Getümmel. Viele Kapitel lang geht es um Karaoke, Buffets mit All-you-can-drink-Alkohol, vollgekotzte Teppiche und belanglose Flirtereien, das, wofür die meisten Passagiere gekommen sind und was der Großteil der Mitarbeiter verabscheut (Filip, Barkeeper: "Für ihn ist die Fähre sein Leben, seine Bleibe. Der einzige Ort, an dem er sich wirklich zu Hause fühlt."). 
Man erfährt jedoch überraschend früh, worum es sich bei dem "Grauen" handelt. Es wird zwar bis kurz vor Ende nicht beim Namen genannt, man weiß aber was es ist. Das war die größte Enttäuschung. In Sigurðardóttirs "Todesschiff" wurde ein gut durchdachter Kriminalfall in die Geschichte integriert, dabei waren auf dem Schiff nur sieben Personen. Bei über 1.000 Passagieren auf der "Baltic Charisma" hätte man allerhand spannende Wendungen erwarten können. Doch die gibt es nicht. Früh weiß man, was die Menschen an Bord bedroht und es ist so hanebüchen, einfallslos und an den Haaren herbeigezogen, dass ich ernsthaft in Erwägung gezogen habe, das Buch an der Stelle zu beenden. Dieser Rezension zuliebe habe ich es zu Ende gelesen und leider wird es nach der Vorstellung des "Grauens" nicht besser. Irgendwann verstehen die Menschen, dass an Bord etwas Schlimmes geschieht und es bricht Panik aus. Wie in vielen Katastrophenfilmen und -büchern, schlagen sich die Hauptpersonen in kleinen, zufällig zusammengewürfelten Grüppchen durch und kämpfen ums Überleben. Einzig innovativ war an dieser Stelle, dass sich einer der Protagonisten auf die Seite des Bösen schlägt und von dort an gegen die restlichen Menschen an Bord arbeitet ("Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Zum ersten Mal wird ihm das in vollem Umfang bewusst. Es ist ein Gefühl, als würde er mit dem Auto in Aquaplaning oder mit dem Flugzeug in starke Turbulenzen geraten.").

Auch das Ende enttäuscht. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine dramatische oder spannende Geschichte auf dem Wasser spielt und niemand nass wird, ist sehr gering. Es ist daher kein großer Spoiler zu sagen, dass das Schiff zum Schluss sinkt. Einige Szenen, die dabei beschrieben werden (Die "Baltic Charisma" geht in Schieflage - dabei fallen Menschen von Bord ins Wasser und unter Deck "drehen" sich die Räume.), haben sofort Bilder aus dem Blockbuster "Titanic" in meinem Kopf hervorgerufen. Auch die Tatsache, dass sich die Menschen in den Rettungsbooten nicht um die Ertrinkenden kümmern, aus Angst, zu sinken, erinnert stark an den Oscar-prämierten Film. Der Roman thematisiert ihn sogar selber (Albin: "I'm the king of the world!" (...) Lo: "Du weißt, dass die Titanic gesunken ist, oder? Ich will nicht unbedingt gerade hier oben [auf der Aussichtsplattform des Schiffs] daran erinnert werden.")
Die letzte Szene erinnert gleich an fast alle Katastrophenfilme und -bücher: Die Überlebenden wiegen sich in Sicherheit, doch eine kleine Beobachtung, die die meisten Charaktere nicht einmal registrieren, lässt die Vermutung zu, dass die Gefahr nicht gebannt ist.

Fazit

Wer sich immer schon gefragt hat, was dabei herauskommt, wenn man die Fernsehserie "iZombie" (Nein, das ist kein Spoiler!), das Videospiel "Last of Us" und "Titanic" mischt, wird bei "Die Überfahrt" voll auf seine Kosten kommen. Denn der Roman enthält zentrale Aspekte dieser Geschichten, zum Beispiel die Bootsparty aus der ersten Folge von iZombie, auf der Feierwütige von einer blutrünstigen Katastrophe heimgesucht werden. Oder dass Menschen durch eine "Ansteckung" selbst zur Gefahr werden, wie bei "Last of Us". Ansonsten zieht sich die Handlung und die Aufklärung, worum es sich beim "Grauen" handelt, ist enttäuschend. Die Gefahr hat nur eine vage, hanebüchene Hintergrundgeschichte und ist relativ oberflächlich. Sie enthält auch zu wenig "Horror", um den Leser so sehr zu fesseln, dass er das Licht nachts lieber anlässt. Die Charaktere sind ebenfalls sehr einseitig, da es zu viele Personen gibt und man daher nicht genug Zeit hat, sie kennen zu lernen. Man leidet nicht mit ihnen mit, hat keine Angst um sie, trotz des "Grauens", das sie heimsucht. Die Perspektivwechsel in den Kapiteln sind jedoch ein nettes Stilmittel, das gut zum Szenario passt.


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