Freitag, 1. Juni 2018

Tatort: Freies Land - Rezension

Der Mord zum Sonntag hat Tradition, deshalb sind auch wir mit Rezension und Live-Tweets (@WatchReadTalkdabei.


Florian Berg hat sich in der Wohnung seiner Mutter Johanna (Doris Buchrucker) die Pulsadern aufgeschnitten - angeblich, denn von einer Klinge fehlt jede Spur. Erst vor Kurzem war der junge Mann nach München zurückgekehrt, nachdem er einige Zeit im "Freiland", dem selbsterklärten "Staatsgebiet" einer Reichsbürgerverbindung gelebt hatte. Für Johanna steht fest: Ludwig Schneider (Andreas Döhler), der Anführer der Gruppierung, hat ihren Sohn auf dem Gewissen. Kommissar Franz Leitmayr (Udo Wachtveitl) überredet seinen widerwilligen Kollegen Ivo Batic (Miroslav Nemec), die sechsstündige Autofahrt auf sich zu nehmen und den Freiländern einen Besuch abzustatten. Vor Ort werden die beiden nicht aufs Gelände gelassen, da die Reichsbürger sich weigern, die Autorität der Polizei anzuerkennen. Lediglich Lene (Anja Schneider) und ihre blinde Tochter Maria (Vreni Bock) begegnen den Ermittlern ein wenig freundlicher. Auch die Kollegen vor Ort (Sigi Zimmerschied & Konstantin Moreth) sind wenig kooperativ: Seit Jahren gibt es immer wieder Anzeigen gegen die Freiländer, doch nach ewigem bürokratischen Hin und Her hat der Staatsanwalt aufgegeben und lässt sie gewähren. Während Batic resigniert nach München zurückfahren will, sucht Leitmayr die Konfrontation mit den Reichsbürgern.

Der neue Trend: hinterwäldlerische Spinner 

Die Freiländer mögen keine Gäste
Foto: BR/Claussen+Putz/Hendrik Heiden
In den letzten drei Jahren gab es zahlreiche Sonntagskrimis über die Gefahren intelligenter Technologie oder rechter Gewalt. In den vergangenen Wochen kristallisiert sich ein neues Lieblingsthema heraus: rückschrittliche Freaks, die sich räumlich und mental von der Zivilisation abgesetzt haben. Ende April landete das deutsch-polnische "Polizeiruf"-Team auf dem Bauernhof einer Prepper-Familie. Mitte Mai verschlug es das Duo vom Schwarzwald-"Tatort" ebenfalls auf ein Landgut, diesmal bevölkert von rechten Nationalisten. Innerhalb von nur fünf Wochen geht es nun zum dritten Mal um einen Haufen Spinner in einer spärlich besiedelten Einöde (Leitmayr: "Ivo, wir zwei außerhalb des S-Bahn-Bereiches, wann haben wir das denn schonmal? Wer weiß, was uns da draußen erwartet? Unendliche Weiten..." Batic: "Unendliche Fahrerei!"). Die drei Fälle weisen nicht nur in Bezug auf das Thema Parallelen auf. Wie schon im "Polizeiruf" gibt es auch in "Freies Land" eine Sequenz, in der sich bewaffnete Menschen in einem Haus verbarrikadieren und in einen Schutzkeller fliehen, weil draußen ebenfalls bewaffnete Gegner warten. Den große Reden schwingenden Anführer einer suspekten Gruppierung, der die Polizei nicht anerkennt, gab es dort auch. Die Parallele zwischen dem Schwarzwald-Fall und "Freies Land" ist die rustikale Lebensweise der Siedler und ihre ausländerfeindliche Gesinnung. Es gibt auch noch zahlreiche typische Elemente, die in fast jedem Krimi vorkommen, in dem es einen Großstadt-Kommissar plötzlich auf's Land verschlägt, beispielsweise trottelige, nutzlose Dorfpolizisten und die Unterbringung in einem ranzigen Hotel mit schlechtem Essen.
Nächtlicher Würstchen-Snack an einer Hausecke
Foto: BR/Claussen+Putz/Hendrik Heiden
Obwohl, in diesem Fall ist es eher gar kein Essen. Die beiden Kommissare müssen sich mit Würstchen aus einem Automaten begnügen (So etwas soll es in einem winzigen Ort im tiefsten Bayern geben?). Die Szene, in der die Ermittler resigniert dabei zusehen, wie eine Wurst langsam in dünnflüssigem Ketchup ertränkt wird, ist eine der wenigen amüsanten in diesem "Tatort". Dafür gibt es aber einen kurzen Slapstick-Moment, der eher zu den Kollegen aus Münster und ihrem Zoo-"Tatort" aus der letzten Woche gepasst hätte: Auf der Suche nach der Klinge, mit der sich das Opfer die Pulsadern aufgeschnitten haben soll, entdeckt Leitmayr eine Schildkröte im übergelaufenen Badewannenwasser. Dieser schräge Moment wird danach nicht mehr thematisiert und die Kommissare scheinen sich nicht einmal über ihren ungewöhnlichen Fund zu wundern. Ansonsten ist die Stimmung eher trüb bis aggressiv. Batic ist von Anfang an wenig begeistert von dem Roadtrip und Leitmayrs anfänglicher Enthusiasmus verfliegt angesichts der arroganten Art der Reichsbürger (Lene: "Ich kann Ihnen sagen, was wir suchen: Gerechtigkeit und Anerkennung für alle, die von dieser sogenannten Regierung ausgebeutet werden." Leitmayr: "Glauben Sie diesen Schwachsinn eigentlich wirklich?" Lene: "Das ist kein Schwachsinn. Das ist die Wahrheit." Leitmayr: "Alternative Wahrheit vielleicht."). Auch als Zuschauer ist es schwierig, keine Hitzewallungen zu bekommen oder die Chipstüte durch das Wohnzimmer zu schmeißen, wenn Ludwig Schneider predigt, was der Personalausweis "in echt" ist ("Personalausweis - Personal, das sind Sie! Nichts anderes! Und sehen Sie Ihre Unterschrift darunter? Damit haben Sie den Allgemeinen Geschäftsbedingungen der BRD GmbH zugestimmt!"). 

Kommissare zwischen Langeweile und Wut

Lene (r.) will nicht, dass ihre Tochter befragt wird
Foto: BR/Claussen+Putz/Hendrik Heiden
Besonders unerträglich ist die Doppelmoral der Freiländer. Sie leiern Paragraphen eines Gesetzes herunter, an dessen Existenz sie nicht glauben und drohen, die Kommissare anzuzeigen - bei der Polizei, die sie nicht als Autorität anerkennen. Die Konfrontation zwischen Leitmayr und drei Freiländern ist der einzige wirklich spannende Moment in diesem "Tatort". Leider wird darauf später nicht mehr eingegangen, obwohl die Reichsbürger ein Video der Begegnung ins Internet gestellt haben. Die Frage, inwieweit sich Leitmayr für seine Reaktion verantworten muss, wäre viel interessanter gewesen, als alle Szenen, die danach noch folgen. Es ist jedoch positiv hervorzuheben, dass die Auflösung am Ende wenig vorhersehbar ist. Zum Teil erinnert sie an den ebenfalls ungewöhnlichen Tathergang im oben genannten "Polizeiruf". Erst in den Schlussminuten wird klar, wie Florian Berg wirklich gestorben ist. Allerdings funktioniert der Überraschungseffekt nur, weil die Kommissare mit den Freiländern so gut wie gar nicht über das Opfer und seinen Ausstieg gesprochen haben. Andernfalls wäre die Auflösung vermutlich deutlich früher erkennbar gewesen. In "Freies Land" ist jedoch nichts wirklich ausgereift oder offensichtlich (mit Ausnahme der "letztes Abendmahl"-Symbolik vielleicht): Batic und Leitmayr bleiben einfach unvorbereitet im Dorf, ohne das mit einem Vorgesetzten abgesprochen zu haben; die dramatischen Vorgeschichten der Reichsbürger werden nur mit einem Satz erwähnt und auch über die anderen Charaktere erfährt der Zuschauer wenig. Besonders an dieser Stelle wurde Potenzial verschenkt, da Drehbuchautor Holger Joos zwar die Neugierde auf einige Figuren weckt, diese dann aber nicht befriedigt. Besonders Ludwig und Lene scheinen viele verborgene Geheimnisse zu haben. Es wäre auch interessant gewesen, zu erfahren, was die Kinder der Reichsbürger über die Abgeschiedenheit und die Theorien denken. Ein großes Lob übrigens noch an die Castingabteilung, dass Lenes blinde Tochter Maria mit einer blinden Jungschauspielerin besetzt wurde. Viel zu oft werden die sowieso schon sehr wenigen Rollen für Menschen mit Handicap an Schauspieler ohne Handicap vergeben.

Fazit

"Freies Land" reiht sich nahtlos hinter den ausnahmslos durchschnittlichen "Tatorten" der letzten Wochen ein. Die beiden Kommissare werden aus ihrem gewohnten Umfeld gerissen und ermitteln praktisch ohne Hilfe. Das birgt viel Potenzial, das so gut wie unangetastet bleibt. Wirklich spannend oder unterhaltend wird der Fall nie, da der Zuschauer nur wenig über das Opfer und die potenziellen Täter erfährt. Stattdessen geht es vor allem um den Konflikt zwischen Polizei und Reichsbürgern, der eher künstlich dramatisiert als sachlich dargestellt wird. Letztendlich bleiben die Charaktere blass und ihre Motivation im Argen. Es gibt aber auch positive Aspekte. Dazu zählen die unvorhergesehene Auflösung, die menschlichen Reaktionen der Ermittler und die passende, trübe Atmosphäre.


Nächste Woche läuft der letzte Sonntagskrimi vor der Sommerpause - ein "Polizeiruf 110" aus Rostock. Die Kommissare Katrin König (Anneke Kim Sarnau) und Alexander Bukow (Charly Hübner) müssen in der Folge "In Flammen" den Mord an einer rechtspopulistischen Politikerin aufklären. Außerdem läuft eine interne Ermittlung gegen König.

Folgt uns auf FacebookTwitter und Instagram, um diese und weitere Rezensionen nicht zu verpassen.
Alle bisherigen Posts zum Thema "TV" findet ihr hier.


0 Kommentare:

Kommentar veröffentlichen