Mittwoch, 4. Juli 2018

Kiss Me First (Serie) - Rezension

Leila Evans (Tallulah Haddon) ist leidenschaftliche Spielerin des Virtual Reality Game "Azana". Nach dem Tod ihrer Mutter zieht sie sich komplett in die virtuelle Welt zurück. Als sie dem Avatar eines Mädchens (Simona Brown) folgt, das Leilas Alter Ego Shadowfax schon eine Weile aus der Ferne beobachtet, stößt sie auf eine unsichtbare Mauer und wird aus dem Spiel gerissen. Beim zweiten Versuch kann sie die Grenze durchschreiten und landet in der versteckten Welt "Red Pill". Dort trifft sie unter anderem die geheimnisvolle Spielerin wieder, die sich ihr als Mania vorstellt - und kurze Zeit später als Tess im echten Leben. Ein Spieler namens Adrian (Matthew Beard) hat diesen friedlichen Ort erschaffen und lädt Leute dorthin ein, die im echten Leben Probleme haben und dort für ein paar Stunden vergessen können. Was im ersten Moment wie ein Paradies aussieht, entpuppt sich bald als Albtraum. Denn Adrian verfolgt böse Ziele, die weit über die Grenzen von "Azana" hinausgehen. Leila scheint die Einzige zu sein, die ahnt, dass etwas mit ihm und "Red Pill" nicht stimmt.


Viel mehr als eine Serie über Virtual Reality

Ist die virtuelle Welt von "Azana" sicher?
Foto: Netflix
Im April kam der Film "Ready Player One" in die Kinos (hier kommt ihr zu meinem Post, in dem ich den Film mit der Romanvorlage vergleiche), eine Buchadaption über eine virtuelle Realität. Auch "Kiss Me First" basiert auf einem Roman und spielt zwischen Realität und Computerspiel. Doch die beiden Geschichten könnten unterschiedlicher nicht sein. Während Ersterer vor allem ein rasanter Actionfilm ist, geht es in der "Netflix"-Serie nur zweitrangig um das dort vorgestellte Game "Azana". Tatsächlich bleibt diese Welt größtenteils komplett außen vor. Das fand ich etwas schade, da ich mir eine Einführung gewünscht hätte. Zwar muss man das Online-Spiel für die Handlung nicht kennen, aber es wäre zumindest interessant gewesen, zu wissen, wie genau die Hardware funktioniert. Es gibt beispielsweise eine Art Halsband, durch das der Spieler die Dinge, die sein Avatar erlebt, selber spüren kann. Wenn also jemand einen Schlag ins Gesicht bekommt, würde man das auch fühlen. Da habe ich mich allerdings gefragt, ob es wirklich genau das gleiche Gefühl ist und wie so ein Halsband überhaupt Schmerzen im kompletten Körper erzeugen kann. In "Ready Player One" wird das durch einen Ganzkörperanzug gelöst, was meiner Meinung nach mehr Sinn macht, als das Gadget in "Kiss Me First". Das liegt vor allem daran, dass es nicht erklärt wird. Statt "Azana" kennenzulernen, wird größtenteils "Red Pill" gezeigt (Der Name ist übrigens eine Anspielung auf den Film "Matrix". Dort kann der Protagonist zwischen einer blauen und roten Pille wählen; die Blaue lässt einen weiter in Unwissenheit leben über das, was die Matrix wirklich ist, während man sich durch die rote Pille über die Wahrheit der Matrix bewusst wird.). Aber auch das ist nicht der Hauptfokus der Serie. Es geht nicht darum, ein Spiel zu gewinnen oder etwas in der virtuellen Welt zu machen, sondern vielmehr um die Auswirkungen auf die Realität.
Leila ist Adrians neueste Auserwählte für "Red Pill"
Foto: Screenshot
Die sechs Episoden sind dabei überraschend tiefgründig und emotional. Der Zuschauer bekommt einen Einblick in das Leben verschiedener Kinder und junger Erwachsener, die von sich selbst behaupten, dass sie "fucked up" sind. Die Serie nähert sich dabei sehr vorsichtig an sensible Themen wie Depressionen, Missbrauch oder Selbstmord. Dabei schaffen es die Schauspieler auf beeindruckende Weise, ihre Charaktere auf emotionaler Ebene greifbar zu machen. Auch wenn man als Außenstehender nur erahnen kann, was sie durchmachen, wird durch bedeutungsschwere Blicke und lange Momente der Stille deutlich, wie sehr sie leiden. Einer von ihnen ist Calumny (George Jovanovic), der im echten Leben Cyryl heißt. Er muss täglich mitbekommen, wie sein Vater seine Mutter anbrüllt und vermutlich auch schlägt. Auf ihm lastet ein schweres Schuldgefühl, weil er glaubt, er sei der Grund dafür, dass sein Vater so ist. Es ist schmerzhaft mit anzusehen, wie er mit resigniertem, hoffnungslosem Blick in seinem Zimmer sitzt und im Hintergrund die Wutausbrüche zu hören sind. Ich habe sehr mit den Charakteren mitempfunden. Obwohl manche nur ein paar Szenen bekommen, transportieren die Darsteller so viel, dass man als Zuschauer das Gefühl hat, einen tiefen Einblick in ihr Innenleben zu erhalten. Durch diese Nähe hatten die schrecklichen Dinge, die ihnen im Laufe der Geschichte passieren, eine starke Wirkung auf mich. Wer übrigens beim Titel vermutet, dass hier eine Liebesgeschichte im Vordergrund steht: Das ist nicht der Fall, auch wenn die Sendung nicht ganz ohne romantische Nebenhandlung auskommt, die sich aber nicht in den Vordergrund drängt.

Packend bis zum Schluss

Tess hat gerade eine gute Zeit in der virtuellen Realität
Foto: Screenshot
Statt mit "Ready Player One" würde ich "Kiss Me First" im Hinblick auf den "Virtual Reality"-Aspekt mit der Serie "Black Mirror" vergleichen. Zwar gibt es dort mit jeder Folge eine neue, unabhängige Handlung, aber in den Episoden taucht ebenfalls oft moderne Technik auf, die für unmoralische Zwecke missbraucht wird. Ähnlich wie bei "Black Mirror" erzählt auch "Kiss Me First" eine unheimliche, schockierende, aber auch mitreißende Geschichte. Das liegt vor allem an der Unberechenbarkeit des Gegners, Adrian. Nicht nur, weil seine Motive, Pläne und Aktionen im Dunkeln bleiben und man als Zuschauer dadurch nie weiß, was sein nächster Schritt ist. Sondern auch, weil seine Taten abgrundtief böse wirken: Er sucht sich Leute, denen es schlecht geht und die beeinflussbar sind und bringt sie dazu, das zu tun, was er will. Er benutzt sie und macht sie zu Marionetten. Dafür muss er sie nicht einmal im echten Leben treffen, er benutzt "Red Pill" als sein "Medium" und ist als sein Avatar überzeugend genug, dass die anderen ihm glauben. Damit stellt er eine sehr perfide Art von Antagonist da, dessen Vorgehensweise beängstigend realistisch erscheint. Er ist außerdem durch seine Anonymität so unheimlich. Der Zuschauer kennt nur seinen Avatar, nicht die echte Person. In der Realität ist er nur durch Telefonanrufe oder Tonbandaufnahmen präsent. Die Frage danach, wer Adrian ist, hat mich lange nicht losgelassen. Ich habe die ganze Zeit mitgerätselt, ob es jemand ist, den man schon gesehen hat und ob es jemand aus dem nahen Umfeld der Protagonistin ist oder nicht. Dadurch bekommt die Serie einen Sogeffekt und lässt die Spannung auf die Auflösung nie abklingen. 
Selbst Adrians Avatar sieht irgendwie unheimlich aus
Foto: Screenshot
Ein weiterer Faktor, der für Nervenkitzel sorgt, sind die anderen Charaktere, die von Adrian manipuliert werden. Auch hier ist unklar, wie genau er ihre Gedanken und Handlungen beeinflusst, was sie - obwohl sie gleichzeitig Opfer sind - genauso unberechenbar macht. Das wird besonders in einer Folge deutlich, in der einige Charaktere so wirken, als würden sie tatsächlich ihren Verstand verlieren. Sie handeln vollkommen unvorhersehbar und irrational, sodass ich kurzzeitig sogar das Gefühl hatte, ich schaue gerade einen Horrorfilm. So taucht eine der von Adrian manipulierten Personen beispielsweise plötzlich mit einem Messer vor einer anderen auf und redet in schauriger Stimme. Es kann alles passieren und niemand ist sicher, wodurch keine Langeweile aufkommt. Besonders die letzte Folge hält Hochspannung bis zum Schluss bereit. Ich wusste nie, was als Nächstes kommen wird. Besonders toll wird es auch dadurch, dass die Hauptfigur Leila sehr aktiv handelt. Sie lässt Dinge nicht einfach geschehen, sondern tut selber etwas, lässt sich nicht unterkriegen und bietet dem Antagonisten die Stirn. Zwischendurch hat auch sie ihre schwachen Momente, die sie insgesamt aber als Charakter nur noch vielschichtiger und menschlicher machen. Durch den starken Willen der Hauptfigur wird das "Spiel" zwischen ihr und Adrian erst so richtig gut. 
Die einzigen Dinge, die mich wirklich gestört haben, waren ein paar Logikfehler und Unstimmigkeiten. Dazu zählt auch das bereits erwähnte Halsband, aber mir sind noch andere Dinge aufgefallen. Leila kann zum Beispiel in einer Szene einfach auf das Smartphone ihres Mitbewohners zugreifen. Als ob er keine PIN-Nummer oder etwas Ähnliches hat, um sein Handy zu schützen? Was mich besonders gestört hat, ist die fehlende Logik hinter den Avatar-Namen. Leila sucht mehrmals nach Personen, die alle sehr simple Nutzernamen ohne zusätzliche Zahlen- oder Buchstabenkombinationen haben. Da immer genau ein Treffer erscheint, ist klar, dass jeder Name einzigartig ist. Dabei ist "Azana" ein weltweit nutzbares Online-Spiel. Wie kann es da sein, dass von all den Spielern, die sie sucht, keiner einen ellenlangen, mit Zahlen oder Sonderzeichen erweiterten Namen hat? Das sind nur ein paar der Unstimmigkeiten, die das Gesamtbild etwas kaputt gemacht haben. Darüber kann ich aber hinwegsehen, da die Serie ansonsten wirklich gelungen ist und mich auch nach dem Ende der letzten Folge nicht losgelassen hat. Sollte es eine zweite Staffel geben, werde ich sie mir auf jeden Fall anschauen.

Fazit

Die Serie "Kiss Me First" überzeugt durch ihre Mischung aus spannenden, mysteriösen, unheimlichen und emotionalen Elementen. Der Zuschauer wird sehr nah an die Charaktere und ihre Situationen herangelassen. Vor allem durch das überzeugende Schauspiel der Darsteller bekommt man Einblicke in ihre Gefühlswelt. Packend ist die Geschichte besonders durch die Unberechenbarkeit der Charaktere und Handlungen. Bis zum Schluss ist die Serie spannend und bietet ein aufregendes Finale voller Nervenkitzel. Die Sendung präsentiert eine interessante und zugleich beängstigende Idee, wie ein Virtual Reality Spiel in den falschen Händen zu einer gefährlichen Waffe wird.


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