Yrsa Sigurðardóttir ist seit Langem meine Lieblingskrimiautorin. Vor vielen Jahren bin ich bei der Frankfurter Buchmesse auf den ersten Roman ihrer Reihe aufmerksam geworden, in der die alleinerziehende Rechtsanwältin Dóra Gudmundsdóttir ermittelt. Durch sie ist die isländische Autorin weltweit bekannt geworden. Ihr aktueller Roman, der Mitte September erschienen ist, setzt eine neue Serie fort. Es ist der zweite Band der Huldar-und-Freyja-Reihe. Meiner Meinung nach kann man "Sog" problemlos verstehen, auch wenn man das erste Buch "DNA" nicht gelesen hat.
Der Krimi ist beim btb Verlag erschienen und in der eBook-Version 452 Seiten lang.
An einer Schule wird eine zehn Jahre alte Zeitkapsel ausgegraben. Darin enthalten sind Aufsätze von Schülern, in denen sie beschreiben, wie sie sich Island im Jahr 2016 vorstellen. Doch es findet sich auch ein Zettel, auf dem die Initialen künftiger Mordopfer angekündigt werden. Der degradierte Kommissar Huldar und Kinderpsychologin Freyja werden beauftragt, den Streich vorsichtshalber zu überprüfen. Alle anderen Polizisten beschäftigen sich stattdessen mit einem viel bedeutenderen Fall: In einem Hot Tub wurden zwei abgetrennte Hände gefunden. Kurz danach taucht eine furchtbar zugerichtete Leiche auf. Huldar ist sich sicher: Es sind die Opfer aus dem Schüleraufsatz.
Tolles Buch, nervtötender Kommissar
Thriller mit Spritzer Horror
Foto: btb/Random House
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Wie bereits angekündigt: Meiner Meinung nach muss man den ersten Band der Reihe nicht gelesen haben, um den zweiten zu verstehen. Die einzigen wichtigen Informationen werden dem Leser gleich am Anfang wieder in Erinnerung gerufen: Am Ende des ersten gemeinsamen Falls haben sich Kommissar Huldar und Kinderpsychologin Freyja grobe Schnitzer erlaubt, wodurch sie beide ihre Führungsposition verloren haben und nun von den ehemaligen Untergebenen gemieden werden. Außerdem ist da noch die Tatsache, dass ihre allererste Begegnung ein One-Night-Stand war, bei dem Huldar Freyja einen falschen Namen und Beruf genannt hatte. Mehr muss der Leser über die Charaktere nicht wissen. Ich würde trotzdem empfehlen "DNA" zu lesen, einfach, weil es ein spannender Krimi ist. Nun zum Folgeband: In "Sog" müssen sich die beiden Protagonisten damit abfinden, dass andere Kollegen ihre Positionen übernommen haben. Sie selbst hocken an dürftigen Arbeitsplätzen und werden kaum noch in den Berufsalltag miteinbezogen ("Als Huldar sich dabei ertappte, wie er auf YouTube Katzenvideos anschaute, hatte er endgültig die Schnauze voll."). Ihre Fehler aus dem letzten Buch machen die beiden damit wett, dass sie hier für lange Zeit die Einzigen sind, die eine Verbindung zwischen dem Aufsatz und den Morden sehen. Denn natürlich und das ist kein Spoiler, liegen sie richtig. Ich muss zugeben, dass mir die Protagonisten aus dieser Reihe nicht ansatzweise so gut gefallen wie die aus der ersten Serie der Autorin. Die damalige Heldin Dóra Gudmundsdóttir hatte einen tollen Humor, war bodenständig und der Leser konnte sich sehr gut mit ihr und ihren Problemen identifizieren. In dieser Hinsicht sind mir Huldar, Freyja und deren Kollegen ein bisschen zu oberflächlich. Der Kommissar war mir schon in "DNA" eher unsympathisch und spätestens seit dem Showdown im aktuellen Roman mag ich ihn überhaupt nicht mehr. Denn da leistet er sich eine Eskapade, die absolut nicht toleriert werden sollte. Noch schlimmer: Er ist nicht bereit die Schuld dafür auf sich zu nehmen und lügt. Freyja ist mir sympathischer, dasselbe gilt für den jungen Polizisten Guðlaugur, der als unsicherer Neuling zwischen all den älteren, erfahreneren Kollegen sehr bodenständig wirkt und in den ich mich am besten hineinversetzen konnte.
Hier läuft ein Mörder rum, verdammt!
Bestsellerautorin Yrsa Sigurdardóttir in Island
Foto: Lilja Birgisdóttir
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Ich mag Yrsa Sigurdardóttirs Bücher vor allem wegen ihres Stils. Sie schreibt sehr lebendig, humorvoll und anschaulich ("Von hinten sah sie aus, als würde sie sich auf einen Zweikampf vorbereiten oder für den Eurovision Song Contest Background-Singen üben."). Zwar muss der Leser bei ihren Geschichten die Beschreibungen einiger grausamer Todesarten und Leichenzustände ertragen, aber sie konzentriert sich dabei vor allem auf die Gefühle der anwesenden Charaktere. Anstelle mehrere Seiten lang Wunden oder verdrehte Körperteile zu beschreiben, wie es einige Autoren tun, leben die Horrorelemente bei ihr vor allem durch die Reaktionen der anwesenden Ermittler oder Zeugen. Bei vielen Büchern, die ich in den vergangenen Monaten gelesen habe, wie beispielsweise "Blutiges Geheimnis - Ein Dorf in Angst" von Daniel Abenthum oder "Krähenmutter" von Catherine Shepherd, habe ich mich sehr am platten Schreibstil und überkandidelten Sprechweisen der Charaktere gestört. In "Sog" reden die Figuren wie normale Menschen. Die Jüngeren unterscheiden sich sprachlich von den Älteren, aber nicht durch einen übertriebenen Gebrauch irgendwelcher "hippen" Wörter oder vermeintlich jugendlicher Floskeln. Was ich auch sehr mag, ist, dass Sigurdardóttir ihre Protagonisten nicht für die Leser charakterisiert, sondern sie neutral beschreibt, sodass sich der Leser eine eigene Meinung bilden kann. Das gilt auch für Verdächtige und nachweislich Kriminelle.
Der Fall ist, für die Autorin typisch, sehr komplex. Die Handlung ist zu Beginn unterteilt in zahlreiche einzelne kleine Ermittlungen, die sich letztendlich zu einem Fall entwickeln. Da das von Anfang an ersichtlich ist, hätte ich mir gewünscht, dass sich wenigstens einer dieser Stränge als falsche Fährte entpuppt. Freyja und Huldar ahnen den Zusammenhang unglaubwürdig früh. Viele der anderen Charaktere weigern sich hingegen bis zum Ende diese Theorie zu glauben und handeln sehr naiv. Obwohl sie wissen, dass sie sich in Gefahr befinden, laufen sie blind ins Verderben. Besonders bei der Exfrau eines der Opfer konnte ich mir das schlecht vorstellen, da sie wirklich vorsichtig war und ihre Kinder bereits einmal von einem Fremden entführt wurden ("Sie hob die Augenbrauen und bekam Zweifel. Es sah Þorvaldur überhaupt nicht ähnlich, schon vor der Tür zu stehen, in der Überzeugung, dass sie mitkämen." Anm. d. Red.: Aufs Bauchgefühl hören!!!). Trotzdem tappt sie dem Täter in eine ziemlich offensichtliche Falle. An diesen Stellen fand ich die Handlung ein wenig an den Haaren herbeigezogen. Natürlich sind auch der Fall, die umständlichen Morde (Ein Mann wird an ein Auto gebunden. Ein Geländer trennt die beiden voneinander. Als der Wagen losfährt, wird das Opfer durch das Geländer gezwängt und zerquetscht.) und der prophezeiende Schüleraufsatz nicht gerade realistisch. Trotzdem wollte ich das Buch so schnell es geht durchlesen, da ich gespannt auf die Auflösung war. Tatsächlich lag ich ausnahmsweise einmal völlig daneben, was die Identität des Täters betraf. Dieser Twist hat mir gut gefallen, obwohl er etwas aus der Luft gegriffen wirkt. Schade fand ich es hingegen, dass das Ende sehr abrupt kam. Viele kleinere Fragen bleiben ungeklärt und das Schicksal einiger Charaktere im Dunkeln. Dafür werden die letzten Seiten darauf verwendet, Kommissar Huldars unpassendes Verhalten zu rechtfertigen. Ich hätte den Krimi also eher mit einem negativen Schlussakkord beendet, doch Sigurdardóttir hat auch dort noch eine kleine, überraschende Wendung eingebaut.
Fazit
"Sog" ist ein guter zweiter Fall der Huldar-und-Freyja-Reihe, der auch als alleinstehender Krimi funktioniert. Die Handlung ist spannend, komplex und überrascht mit einigen kleinen Wendungen. Trotzdem konnte ich der Geschichte gut folgen, sodass die rund 450 Seiten schnell durchgelesen waren. Ich persönlich bin mit den beiden ermittelnden Protagonisten auch im zweiten Band noch nicht warm geworden, doch da in vielen Kapiteln andere Charaktere im Fokus stehen, lässt sich darüber hinwegsehen. Durch die anschauliche, neutrale und humorvolle Schreibweise von Yrsa Sigurdardóttir kann der Leser sich die Figuren und ihre Weltanschauung gut vorstellen. Aus diesem Grund freue ich mich auch jetzt schon auf die nächsten Werke der Autorin.
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