Sonntag, 17. September 2017

Tatort: Zwei Leben - Rezension

Der Mord zum Sonntag hat Tradition, deshalb sind auch wir mit Rezension und Live-Tweets (@WatchReadTalkdabei.


Beni Gisler (Michael Neuenschwander) war früher Lokführer. Innerhalb weniger Jahre haben sich zwei Selbstmörder vor seinen Zug geworfen. Als Fernbusfahrer hofft er nun den schlimmen Erinnerungen zu entkommen. Doch dann landet eines nachts ein Mann auf seiner Windschutzscheibe. Gisler ist am Ende. Als ihm sein Freund, Kommissar Reto Flückiger (Stefan Gubser), eröffnet, dass es sich vermutlich um einen Mord handelt, beschließt Gisler den Täter zu finden und zu töten. Auch Therapeutin Sonja Roth (Stephanie Japp) kann ihn nicht von seinem Vorhaben abbringen. Derweil finden Flückiger und seine Kollegin Liz Ritschard (Delia Mayer) heraus, dass es sich bei dem Toten vermutlich um einen Mann handelt, der 2004 beim Tsunami in Thailand ertrunken ist.

Tote sind nicht die einzigen Opfer

Wahrlich kein schöner Anblick
Foto: SRF
Die Grundidee dieses Schweizer "Tatort" finde ich großartig. Viel zu oft werden die Reaktionen von Angehörigen und Zeugen in Krimis heruntergespielt, obwohl sie die Erinnerungen und Erfahrungen ein Leben lang mit sich herumtragen werden. Natürlich ermitteln die Kommissare hier auch in einem Mordfall ermitteln, aber der Fokus liegt auf Beni Gisler und seinem Umgang mit dem Erlebten. Die Szenen mit ihm sind sehr intensiv, da er glaubhaft zwischen Verzweiflung und blanker Wut auf die Opfer hin und her gerissen ist. Hier wird nicht darüber gesprochen, warum sich Menschen dazu entscheiden Suizid zu begehen. Diese Geschichte will zeigen, dass die Entscheidung eines Einzelnen viele Leben verändern kann - auch von Menschen, die ihn nicht einmal persönlich gekannt haben (Gisler über die zweite Person, die sich vor seinen Zug geworfen hat:"Sie ist 23 gewesen. Sie hat mitten auf den Gleisen gestanden. Sie stand kerzengerade da. Ich habe noch gedacht: `Sie wird schon weggehen.´ Und dann ist da dieses Geräusch gewesen."). Michael Neuenschwander spielt sehr eindrücklich. Trotz seines irrsinnigen Plans den Täter zu töten und trotz seiner Wut auf die Selbstmörder, versteht man, was ihn antreibt und kann es auch irgendwie nachvollziehen. Besonders realistisch erscheint dieser Fall, wenn man einen Blick auf die Statistik wirft: Leider überfährt jeder Lokführer während seines Arbeitslebens im Durchschnitt drei Menschen. 
So sehen erfolgreiche Ermittlungen aus!
Foto: ARD Degeto/SRF/Daniel Winkler
Der Rest der Handlung wirkt sehr wahllos zusammengewürfelt. Am Rande erfährt der Zuschauer, dass Liz Ritschard eine neue Freundin hat. Auch Flückiger hat, wie in den letzten Folgen, eine Liebschaft. Diese Nebengeschichte wird allerdings so lieblos abgearbeitet, dass ich nicht einmal Lust hatte nachzuschauen, ob es die gleiche Dame wie in den letzten Episoden ist. Dasselbe gilt für die Ermittlungen. Die Kommissare legen sich sehr schnell darauf fest, dass es sich bei dem Toten um Marco Conti (Roland Bonjour) handelt, der offiziell vor 13 Jahren in Thailand gestorben ist. Sonderlich viele Hinweise haben sie zunächst keine, trotzdem ermitteln sie nicht in andere Richtungen. Überhaupt: Flückiger und Ritschard tun nur wenig. Sie verlassen sich vor allem auf die Ergebnisse ihrer Kollegen und auf die Hilfe von Privatleuten. Sie gehen mit dem Bild des Toten schon nach wenigen Stunden an die Presse (und verlassen sich hinterher auf die Aussage einer einzelnen Anruferin). Einen echten Hinweis liefert später die "Crowd Intelligence" der sozialen Medien. Nachdem letzte Woche in "Tatort: Stau" bereits über Twitter gesprochen wurde, habe ich das Gefühl, dass der Sonntagskrimi mal wieder versucht, junge Menschen anzulocken (Wir kommen auch ohne "Modernisierung", wenn ihr gute Geschichten bietet!). Das ist nicht die einzige Gemeinsamkeit mit dem grandiosen Stuttgarter "Tatort" vorige Woche: Wieder ist ein Auto die Tatwaffe und wieder spielt Markus Graf einen Verdächtigen. Da hat wohl jemand in der Programmplanung nicht aufgepasst.

Die Mördersuche hat oberste Priorität!

Sonja Roth will Beni Gisler helfen sich zu erinnern
Foto: ARD Degeto/SRF/Daniel Winkler
Wie würdet ihr reagieren, wenn ihr (das ist jetzt kein sonderlich großer Spoiler) einem lebenden Toten begegnet? Vermutlich nicht so, wie es die Charaktere hier tun: Fröhlich und überrascht. Von Ungläubigkeit, Vorwürfen oder Schock keine Spur. Als wäre Wiederauferstehung in der Schweiz völlig normal. Nicht nur an dieser Stelle fühlen sich die Figuren sehr künstlich an. Eugen Mattmann (Jean-Pierre Cornu), der Vorgesetzte der Kommissare, wirkt in diesem Krimi wie ein Fremdkörper. Er hat wenig Ahnung von den Ermittlungen. Außerdem scheint es fast, als hätten die Drehbuchautoren Mats Frey und Felix Benesch ihn in letzter Sekunde in einige Szenen hineingeschrieben, nur um den Charakter dabei zu haben. Ein Beispiel ist dieser unglaubliche ertragreiche Dialog: Mattmann: "Welche Priorität würden Sie der Suche nach dem Täter geben?" Ritschard: "Die Oberste!" Ich bin sehr froh, dass die Kriminalpolizei der Jagd nach einem Mörder die höchste Priorität gibt! Noch unstimmiger als Mattmann ist nur die Therapeutin Sonja Roth. Sie scheint mit ihrem Job überfordert zu sein und ist grundlos wütend auf andere Charaktere. Hier wirkt es fast, als hätten beide Drehbuchautoren eine eigene Version der Figur geschrieben und hinterher versucht einen Kompromiss zu finden. Unterstrichen wird die Unstimmigkeit der handelnden Personen von der gewohnt schlechten Synchronisation. Wie ist es nur möglich, dass die Mundbewegungen und die Sprache sich so signifikant unterscheiden? Mein größter Kritikpunkt ist jedoch die völlig zusammengeschusterte Auflösung. Zum einen wird der halbwegs geübte Krimi-Zuschauer den Täter nach kurzer Zeit erraten haben. Zum anderen ist die letztendliche Enttarnung des Täters sehr simpel. Es ist nicht das obligatorisch in den letzten zehn Minuten auftauchende Handyvideo, das den Mord zeigt, geht aber stark in diese Richtung. Theoretisch hätte es nur die ersten und die letzten zehn Sendeminuten gebraucht, um die ganze Geschichte zu erzählen, da im Mittelteil kaum etwas passiert. Dann wäre dieser "Tatort" vermutlich auch deutlich spannender gewesen, so zieht sich die Handlung sehr.

Fazit

"Zwei Leben" ist ein sehr langatmiger Krimi, der es nicht schafft die Mördersuche, die Charaktere und die interessante Idee des Suizid-Betroffenen unter einen Hut zu bekommen. Dazu werden noch die privaten Geschichten der Ermittler kurz angerissen, aber so wenig emotionalisiert, dass es vermutlich niemanden interessiert, ob die Freundinnen von Ritschard und Flückiger im nächsten Schweizer "Tatort" wieder mitspielen. Die Folge wirkt zusammengewürfelt und chaotisch. Auch die Auflösung am Ende kann nicht fesseln, da der Täter ziemlich offensichtlich und der Showdown nicht wirklich aufregend ist. Letztendlich ist es besonders schade, dass hier ein wirklich spannendes, unverbrauchtes Thema und mit Michael Neuenschwander ein toller Darsteller verheizt wurde.



Nächste Woche macht der Sonntagskrimi schon wieder Pause. Diesmal wegen der Bundestagswahl (Geht wählen!). Am 01. Oktober startet das neue Team aus dem Schwarzwald. In ihrer ersten Folge "Goldbach" müssen die Kommissare Franziska Tobler (Eva Löbau) und Friedemann Berg (Hans-Jochen Wagner) herausfinden, wer eine Elfjährige erschossen hat und wieso der Nachbarsjunge verschwunden ist.

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