Dienstag, 23. Mai 2017

Casting JonBenet - Rezension

Weihnachten 1996 wurde die sechsjährige Schönheitskönigin JonBenét Ramsey im Keller ihres Elternhauses in Boulder, Colorado tot aufgefunden. In den vergangenen 20 Jahren gerieten die verschiedensten Menschen in den Verdacht JonBenét getötet zu haben, darunter ihre Eltern John und Patricia "Patsy" Ramsey sowie ihr damals neunjähriger Bruder Burke. Auch ein verurteilter Pädophiler und ein Weihnachtsmann-Darsteller waren im Fokus der Ermittlungen. Der Fall wurde bis heute nicht aufgeklärt und gilt durch seine mysteriösen Umstände, wie ein seltsames Erpresserschreiben, als einer der spektakulärsten amerikanischen Mordfälle.
Die meisten True-Crime-Dokumentationen sammeln Beweise und befragen Zeugen. Der Streaming-Anbieter "Netflix" nähert sich dem Mordfall in seiner Doku "Casting JonBenet" auf eine ganz andere Art und Weise.

Fiktives Casting in echter Doku

Vorsprechen für die Rolle "JonBenét"
Foto: Netflix

Für ihren Dokumentarfilm greift Regisseurin Kitty Green auf ein fiktives Setting zurück: Das Casting für einen nicht-existenten Spielfilm. Sie lässt reale Menschen, die zur Zeit des Mordes in Boulder und Umgebung gewohnt haben, für einen Film vorsprechen. Der Zuschauer sieht diesen Personen dabei zu wie sie schauspielerisch einige Szenen nachstellen und hört ihre Sicht der Dinge. Was im ersten Moment wie ein sehr umständlicher Ansatz klingt, funktioniert überraschend gut. Die Menschen schildern wie sie den damaligen Trubel in ihrer Stadt erlebt haben, bringen eigene Erfahrungen mit Mord und Misshandlung ein und mutmaßen was am 25. Dezember 1996 tatsächlich geschehen ist. Das macht den Fall sehr nahbar und zeigt auch, dass es viele Verbrechen gibt, die kaum mediale Aufmerksamkeit bekommen und dementsprechend keine nationale Welle der Wut und Bestürzung auslösen. Dass der Film ein Casting darstellt, bei dem Schauspieler um Rollen in der Verfilmung eines realen Kindsmordes buhlen, ist eine interessante Metapher. Auch JonBenét lebte als Schönheitskönigin in einer semi-realen Welt, in der sie viel älter aussehen und sich viel erwachsener verhalten musste als es ihrem Alter vermutlich angemessen gewesen wäre.
Eine kleine "JonBenét" wird geschminkt
Foto: Netflix
Die Idee mit Menschen zu sprechen, die den Fall näher miterlebt haben als der Durchschnitts-Amerikaner, aber nicht direkt beteiligt waren, ist sehr kreativ. Die Schauspieler, die für die Rollen von John und Patsy Ramsey vorsprechen, haben alle unterschiedliche Ideen und Vorstellungen, was geschehen sein könnte. Jeder von ihnen interpretiert reale Fakten und Zeugenaussagen anders. Besonders faszinierend sind die Szenen, die sie für das Casting vorspielen sollen. Denn auch hier stellen die Schauspieler die Charaktere völlig verschieden dar. Gezeigt wird unter anderem der Moment, in dem John Ramsey die Leiche seiner Tochter findet. Während sich einer der "John"-Darsteller starr neben sie setzt und seinen Kopf auf die Hände stützt, schluchzt ein anderer laut vor Schmerz. Ein "John" bleibt regungslos in der Tür stehen. Nur einer drückt seine Tochter an sich. Jeder von ihnen stellt sich den Moment anders vor und das ist die Stärke des Films: Er versucht nicht so zu tun als hätte er eine tatsächliche Lösung des Falls parat. Stattdessen wird deutlich, dass es endlose Möglichkeiten gibt und die Wahrheit vermutlich niemals aufgedeckt wird. Auch die Natürlichkeit der Menschen trägt zur Authentizität des Falls bei. In einer Szene wird gezeigt, wie die jungen "JonBenét"-Darstellerinnen geschminkt werden. Während einige das Styling augenscheinlich genießen, guckt eine todunglücklich. Ein Mädchen beginnt zu lachen, als der Schminkpinsel ihr Gesicht kitzelt. Eine andere "JonBenét" knabbert an einem Keks, während künstliche Haarteile an ihrem Kopf befestigt werden.

Greifbare Realität

Kandidaten spielen verschiedene Szenarien durch
Foto: Netflix
Da Regisseurin Kitty Green weitestgehend auf Requisiten, Musik und andere ablenkende Faktoren verzichtet, sind die Protagonisten und ihre Gedanken das Herzstück der Doku. Nicht nur ihre Vermutungen zu den Geschehnissen im Ramsey-Haushalt und ihre Interpretation der beteiligten Personen sind interessant, auch ihre persönlichen Erfahrungen regen zum Nachdenken an. So berichtet eine "Patsy"-Darstellerin vom Mord an ihrem Bruder und wie unterschiedlich ihre Reaktion im Vergleich zu der ihrer Eltern war. Sie möchte zeigen, dass Trauer viele Facetten hat und John und Patsy Ramsey nicht automatisch etwas mit dem Tod ihrer Tochter zu tun haben, nur weil sie bei Pressekonferenzen gefasst wirkten. Eine andere "Patsy" berichtet wie sie selbst Opfer von Pädophilen wurde. In den meisten Fällen passen die Einwürfe sehr gut zur Geschichte und veranschaulichen, dass JonBenéts Schicksal zwar hohe Wellen geschlagen hat, aber ähnliche Taten hundertfach jeden Tag verübt werden. Die persönlichen Erlebnisse lassen den Film lebendig werden und die Emotionen sind echt. So beginnt beispielsweise eine Frau zu weinen, als sie sich vorstellt wie es wäre, wenn sie ihre eigene Tochter ermordet im Keller finden würde. Einer der Jungen, der für die Rolle des neunjährigen Burke Ramsey vorspricht, erzählt, wie ihn seine eigene Schwester tagtäglich aufzieht und ärgert. Sein unglückliches Gesicht und sein tieftrauriger Tonfall sind so anrührend, dass man sich automatisch die Frage stellt, ob der echte Burke ähnliches gefühlt oder erlebt hat. Auch das schauspielerische Talent einiger Kandidaten ist beeindruckend. Einer der Männer, der für die Rolle des Pädophilen John Mark Karr vorspricht, fühlt sich in den nachgestellten Szenen verstörend intensiv in seine Rolle hinein. Regisseurin Kitty Green erzählt dazu in einem Interview: "It was definitely a dark and unsettling day for sure. There was one actor whose level of research was, to be honest, terrifying."
An einigen Stellen driften die Protagonisten jedoch zu weit von der eigentlichen Handlung ab. Einer der Bewerber für die Rolle eines ermittelnden Polizisten berichtet beispielsweise über seinen Nebenjob als "Sex Educator" und seine Vorliebe für "breast torture". Das zentrale Thema ist der reale Mord an einer Sechsjährigen, daher wirken diese Szenen deplatziert. 
Könnte ein Kind einen Schädel zertrümmern?
Foto: Netflix
Der Film macht keinerlei Anstalten den Kriminalfall aufklären zu wollen. Lediglich an einer Stelle flechten sie ein cleveres Experiment ein. Eine der "Patsys" äußert die Behauptung, dass der kleine Burke niemals die Kraft gehabt hätte seiner Schwester eine ernsthafte Kopfverletzung zuzufügen. Daraufhin werden Ausschnitte gezeigt, in denen einige der "Burke"-Bewerber mit Taschenlampen (Es wird vermutet, dass JonBenéts Kopfwunde mit einer solchen verursacht wurde.) auf Melonen einschlagen und sie in wenigen Sekunden spalten. Das Filmteam lässt alle Szenen unkommentiert und ermöglicht es dem Zuschauer sich ein eigenes Urteil zu bilden. Dieser Ansatz ist außergewöhnlich. Es ist begrüßenswert, wenn True-Crime-Dokus nicht versuchen, die Meinung der Filmemacher möglichst attraktiv erscheinen zu lassen, sondern viele Optionen aufzeigen und dem Zuschauer das Urteil überlassen. 
Leider versäumt es Regisseurin Kitty Green generelle Information über den Film und ihr Projekt zu präsentieren. So steigt der Film direkt in den Castingprozess ein, ohne den Mordfall einmal neutral darzulegen. Zuschauer, die die Geschichte nur grob oder gar nicht kennen, bleibt nichts anderes übrig als das zu glauben, was die Castingteilnehmer aus ihrer eigenen Perspektive erzählen. Da sich die Doku den Geschehnissen allerdings nicht chronologisch nähert, kann auch das kniffelig sein. Das Prinzip des fiktiven Casting wird im Film nie erklärt und in den Beschreibungen der Doku wird nicht darauf eingegangen, ob sich die Schauspieler bewusst waren, dass sie nicht für einen Film vorsprechen. Diese Undurchsichtigkeit ist ärgerlich, da so immer die Frage offen bleibt, inwieweit die Protagonisten tatsächlich frei sprechen und mit welcher Intention sie das tun. 
Green lässt auch das Ende unkommentiert. Alle "Patsy"- und "John"-Schauspieler stellen im Set des Ramsey-Hauses zeitgleich verschiedene Szenarien dar, was am Abend des Mordes in den beiden Menschen vorgegangen sein könnte. So betont der Film nochmal die vielen Möglichkeiten. Die Kamera, die langsam an allen Darstellern vorbeigleitet, ist hier positiv hervorzuheben. 

Fazit

JonBenét Ramsey starb an Weihnachten 1996
Foto: Allday
"Casting JonBenét" ist eine True-Crime-Dokumentation, die sich durch ihr interessantes Konzept von ähnlichen Filmen abhebt. Die Filmemacher verzichten darauf Angehörige JonBenéts, ermittelnde Beamte oder Experten zu interviewen. Stattdessen widmen sie sich Menschen, die durch räumliche Nähe eng an den Fall gebunden sind. Dadurch präsentieren sie nicht nur einen neuen Aspekt der Geschichte, sondern viele unterschiedliche Perspektiven auf die Geschehnisse vor über 20 Jahren. Das fiktive Casting ist ein cleveres Setting, das viele Möglichkeiten bietet und gleichzeitig JonBenéts Leben im Rampenlicht widerspiegelt. Die Protagonisten und ihre echten Emotionen machen den Film lebendig. Leider widmet Kitty Green den kleinen "JonBenét"-Schauspielerinnen zu wenig Zeit. Im Gegensatz zu den anderen Rollen werden sie nicht interviewt und sind generell selten zu sehen. Das ist schade, vor allem da das "Burke"-Casting zeigt, dass auch Kinder interessante Ansichten beizusteuern haben. Auch an Einordnung und Hintergrundinformationen mangelt es, was den Film unstrukturiert wirken lässt. Durch die großartigen Protagonisten und das außergewöhnliche Konzept, fallen diese Faktoren jedoch weniger ins Gewicht. 



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