Mit dem Film "Okja" hat Streaming-Anbieter "Netflix" erneut eine Kontroverse ausgelöst. In diesem Jahr wurden bereits das Magersuchtsdrama "To The Bone" und "Tote Mädchen Lügen Nicht", eine Serie über den Selbstmord einer Schülerin, international diskutiert. Im Gegensatz zu diesen Produktionen war bei "Okja" allerdings nicht das Thema der Auslöser, sondern die Premiere. Denn die fand im Mai bei den Filmfestspielen von Cannes statt und wurde von Buhrufen begleitet. Der fragwürdige Grund: "Netflix" produziert ausschließlich fürs Internet, in Cannes werden Kinofilme prämiert. Ab nächstem Jahr sollen daher ausschließlich Produktionen zum Wettbewerb zugelassen werden, die in französischen Lichtspielhäusern gezeigt wurden. Durch diese Diskussion geriet "Okja" in Vergessenheit. Wir haben uns entschieden die Rezension heute anlässlich des "Tags der Freundschaft" zu veröffentlichen, da Freundschaft das zentrale Thema des Films ist:
Im Jahr 2007 entwickelte das Unternehmen "Mirando" ein genmanipuliertes "Superschwein", das wenig frisst, wenig Abfall produziert und deutlich mehr Fleisch liefert als ein herkömmliches Schwein. 26 Ferkel wurden an unterschiedliche lokale Bauern überall in der Welt übergeben, um die idealen Umweltverhältnisse für sie zu finden. Nach zehn Jahren sollen die Tiere der Welt präsentiert werden. Dahinter steckt eine Marketingstrategie, mit der Chefin Lucy Mirando (Tilda Swinton, "Doctor Strange") das schlechte Image ihrer Firma aufbessern will. Ein Ferkel bekommen der südkoreanische Bergbauer Heebong (Byun Hee-bong) und seine Enkelin Mija (Ahn Seo-hyeon). Schnell wird Sau Okja zu einem festen Familienmitglied. Dementsprechend groß ist der Schock, als die zehn Jahre vorbei sind und das Tier nach Amerika zurückgebracht werden soll. Gegen den Willen ihres Großvaters macht sich Mija allein auf den Weg, um ihre Freundin zu retten.
Nicht für Kinder
Ist das wirklich Fiktion? Foto: Netflix |
Ein "Superschwein" und ein kleines Mädchen sind unzertrennliche Freunde. Als das Tier von einer Gruppe geldgieriger Erwachsener entführt wird, ist die junge Heldin bei ihrer Rettungsmission auf sich gestellt. Die Handlung an sich klingt wie ein Abenteuerfilm für Kinder und auch die erste halbe Stunde sieht danach aus. Dann wendet sich das Blatt jedoch und es wird deutlich, weshalb der Streaming-Anbieter "Okja" mit dem Hinweis "Nicht für Kinder" versehen hat. Der Streifen wirkt nur im ersten Moment wie ein Held-befindet-sich-auf-einer-langen-actionreichen-Mission-um-geliebten-Freund-zu-retten-Film. Anhand der Freundschaft zwischen Mija und Okja wird hier eine deutlich dunklere Geschichte erzählt: Die der Fleischindustrie. Die Fabrikhallen von "Mirando" (Die Namensähnlichkeit mit dem höchst umstrittenen Gentechnik-Konzern "Monsanto" ist wohl kein Zufall.) wirken wie die wahr gewordene Hölle: Verzweifelte Tiere, die zusammengepfercht dem Ende entgegen getrieben werden; ein einziger aufgesetzter Schuss; Kadaver, die von der Decke hängen; gigantische Blutpfützen; unförmige Fleischklumpen, frisch verpackt. Hat man den ersten Schock dieser Bilder überwunden, setzt langsam die Erkenntnis ein, dass "Mirando" vermutlich "nur" genau das macht, was in dieser Sekunde hunderttausende Firmen auf der ganzen Welt tun. "Wenn es billig ist, essen sie es." , heißt es an einer Stelle im Film.
Okja ist nicht nur süß, sondern auch intelligent
Foto: Netflix
|
Okja ist eine niedliche tierische Protagonistin, die aussieht wie eine Kreuzung aus Schwein, Nilpferd und Fuchur, dem Glücksdrachen aus "Die Unendliche Geschichte". So fällt es schwer nachzuvollziehen, dass "Mirando" diese sanfte Riesin umbringen möchte. In der realen Welt gibt es immer wieder Dokumentationen, die das Geschehen in Legebatterien und Schlachthäusern zeigen. Der Aufschrei ist groß - für einige Tage, vielleicht sogar Wochen. Danach ist das Thema vergessen und man freut sich wieder über günstiges Fleisch im Supermarkt. Umso trauriger wirken die engagierten Versuche der "Animal Liberation Front" (ALC - unter anderem Paul Dano und Lily Collins, "To the Bone") das Schicksal von Okja und ihren Artgenossen an die Öffentlichkeit zu bringen. Dabei verhalten sie sich zu Beginn nicht viel moralischer als der geldgierige Konzern. "K" (Steven Yeun), der als einziger Koreanisch spricht, übersetzt absichtlich falsch, um die Mission nicht zu gefährden - zu seinen eigenen Gunsten ("Das ist die coolste Sache, bei der ich je dabei war. Die ganze Ausrüstung..."). Anführer Jay (Paul Dano) wirkt ebenfalls benebelt von ihren Plänen und hat einen wirklich beunruhigend irren Blick drauf.
Rot wie Blut
Das Image ist alles: Lucy Mirando (l.) und Mija
Foto: Netflix
|
"Okja" besticht vor allem durch eindrückliche Bilder. Zu Beginn toben Mija und Okja durch die Berge - blauer Himmel, paradiesische Wasserfälle und keine Menschen zu sehen. Je düsterer die Handlung wird, desto dunkler werden die Bilder. Lediglich die Szenen, die bei "Mirandos" Parade zu Ehren der "Superschweine" spielen, sprühen vor künstlichen Rosatönen. Der Showdown findet schließlich in einem Schlachthof statt. Hier ist alles in Schwarz und Weiß gehalten - den einzigen Kontrast bildet das rote Blut, das Böden, Decken und Kleidung der Angestellten bedeckt. Regisseur Bong Joon-ho schreckt nicht davor zurück, den Zuschauern und seiner jungen Protagonistin diese Bilder zu zeigen, was eine gute Entscheidung ist. So bleibt der Film nachhaltig im Gedächtnis. In diesem Zusammenhang möchte ich auf eine Szene eingehen, die mich als einzige wirklich bewegt hat. Mija geht am Zaun des Schlachthofs entlang und hört in regelmäßigem Abstand einen Schuss aus der Ferne. Auf der anderen Seite sind tausende "Superschweine" gefangen, die friedlich herumstehen. Nur zwei Tiere und ihr Baby folgen Mija aufgeregt. Als sie die drei bemerkt, drückt das eine den elektrischen Zaun mit der Schnauze auseinander, während das andere Tier ihr Junges hindurch stupst. Als es versucht zu seinen Eltern zurückzulaufen, schließen sie das Loch wieder. Obwohl ich mich bei vermeintlich anrührenden Szenen meistens eher langweile, war diese kurze Sequenz die einzige im Film, bei der ich meine Augen nicht vom Bildschirm nehmen konnte.
Worte zählen mehr als Taten, denkt die ALF
Foto: Netflix
|
Die besten Momente in "Okja" sind die, in denen nicht gesprochen wird. Mija hat beispielsweise nur wenig Text und wenn sie spricht, dann fast ausschließlich in Koreanisch. Dementsprechend bleiben Ahn Seo-hyeon nur ihre Mimik und Gestik, um dem Großteil der Zuschauer zu zeigen, was in ihrer Figur vorgeht. Diese Bildsprache beherrscht sie perfekt. Obwohl Okja am Set wohl nur eine Anzahl grün gekleideter Menschen und Requisiten war, wirkt Seo-hyeon harmonisch im Spiel mit dem Tier. Ihre Verzweiflung und ihr blinder Wille, die Freundin zurückzuholen, sind eindrücklich. Besonders, wenn man bedenkt, wie alt die Schauspielerin ist. Mija soll 14 Jahre alt sein, auf mich wirkt sie älter. Tatsächlich war Seo-hyeon beim Dreh gerade einmal 12 Jahre alt. Das merkt man jedoch nur in den Szenen, in denen sie direkt mit Erwachsenen agiert, da hier Hierarchie und Körpergröße deutlich werden.
Tilda Swinton als die skrupellosen Zwillingsschwestern Lucy und Nany Mirando, sowie Paul Dano als Tierschutz-Anführer Jay verleihen ihren Charakteren eine gewisse Undurchschaubarkeit und Mystik, da sie sich immer zu verstellen scheinen, sodass man nie abschätzen kann, was in ihnen vorgeht. Das macht sie zu den interessantesten Charakteren. Der einzige Fehlplatzierte ist in meinen Augen Johnny Wilcox (Jake Gyllenhaal), der für "Mirando" als wissenschaftlicher Gutachter und Marketing-Gesicht fungiert. Sein Zweck für die Handlung ist vor allem "comic relief". Er hampelt herum, säuft und schmeißt schale Witze in den Raum. Zum Rest der Geschichte will er einfach nicht passen und lenkt durch sein peinliches Verhalten nur von der Botschaft des Films ab.
Zum Glück verschwindet Wilcox irgendwann
Foto: Netflix
|
Einige andere Szenen sind ebenfalls hart an der Grenze zum Slapstick. So gibt es beispielsweise gleich zwei Momente, in denen Okjas Köttel raketenartig fliegen. Auch Fürze finden irgendwie ihren Weg in die Geschichte. Es ist schade, dass Zeit für solche Szenen gelassen wurde. Vor allem, da an vielen anderen Stellen große Teile der Story einfach fehlen. Der Zuschauer sieht beispielsweise, wie Mija ihre Farm in den Bergen verlässt. Im nächsten Moment läuft sie durch Seoul. Wie sich die 14-Jährige allein und praktisch ohne Geld innerhalb einer Nacht bis in die Landeshauptstadt durchgeschlagen hat, wird nicht aufgeklärt. In einer anderen Sequenz rennt Okja einem Transporter hinterher, dessen Ladefläche fast so hoch ist wie sie. Beim nächsten Schnitt ist sie bereits oben. Es gibt zahlreiche Beispiele wie diese. Ärgerlich, dass der Streifen Probleme umgeht, indem er sie einfach auslässt.
Fazit
"Okja" ist ein ungewöhnlicher Film. Auf der einen Seite stehen eine junge Protagonistin und ihr niedliches Haustier. Auf der anderen Seite ist die harte, sehr erwachsene Welt, in der Kommerz auf Ethik prallt. Dabei folgt Regisseur Bong Joon-ho nie nur einer Linie: Mal ist der Streifen rasant, mal andächtig, mal grausam, mal paradiesisch, mal lustig, mal anrührend. An einigen Stellen rutscht er jedoch zu tief in eins der Felder ab und verliert seine beiden sympathischen Hauptdarstellerinnen aus den Augen. Dennoch ist "Okja" sehenswert, vor allem, wenn man auf fleischfreie Ernährung umstellen möchte.
Folgt uns auf Facebook, Twitter und Instagram, um weitere Rezensionen nicht zu verpassen. Alle bisherigen Posts zum Thema "Film" findet ihr hier.