Dienstag, 18. Juli 2017

To The Bone - Rezension

Magersucht. Wie entsteht sie? Wie erkennt man sie? Was können Angehörige tun? Wie groß sind Heilungschancen und Rückfallquote? Das sind nur einige von vielen Fragen, die der neue "Netflix"-Film "To The Bone" nicht beantwortet. 
Ende März sorgte der Streaming-Anbieter bereits mit "Tote Mädchen Lügen Nicht" für Aufregung. Viele Eltern und Experten befürchteten, dass labile Jugendliche durch die Serie zum Selbstmord animiert werden könnten. Mit "To The Bone" wagt sich "Netflix" nun an das nächste kontrovers diskutierte Tabu-Thema: Essstörungen. 

Ellen (Lily Collins) ist 20 Jahre alt und magersüchtig. Vier stationäre Aufenthalte hat die junge Künstlerin bereits hinter sich, als ihre Stiefmutter Susan (Carrie Preston) sie in einer Wohngruppe unterbringt. Dort leben sechs weitere Jugendliche mit ähnlichem Krankheitsbild. Neben regelmäßigem Wiegen muss Ellen gemeinsam mit ihrer zweigeteilten Familie eine Therapie machen. Dabei wird sie von dem engagierten Arzt Dr. William Beckham (Keanu Reeves) unterstützt.

Familiendrama, Buddykomödie... Was denn nun?

Wie lange hält ihr Körper durch?
Foto: Netflix
Bulimie und Magersucht stellen das Kernthema dar - sollte man anhand des Trailers und der Filmbeschreibung jedenfalls denken. Das Drehbuch packt allerdings noch so viele unterschiedliche Aspekte hinzu, dass es unmöglich ist, bei einer Laufzeit von knapp über 100 Minuten auf jeden einzelnen einzugehen. Da wäre erstmal Ellens Familie: Ihr leiblicher Vater ist während des gesamten Films auf Geschäftsreise und überlässt es seiner liebevollen, aber völlig überforderten Frau, sich um seine kranke Tochter zu kümmern. Stiefschwester Kelly (Liana Liberato) leidet zunehmend unter dem Getuschel anderer Leute. Ellens leibliche Mutter Judy (Lili Taylor) ist mit ihrer Lebensgefährtin Olive (Brooke Smith) weggezogen und versichert ihrem Kind immer wieder, dass es gerade so gar nicht passe, sie bei sich aufzunehmen. Doch das sind noch lange nicht alle Charaktere. In der Wohngemeinschaft kümmern sich Dr. Beckham und zwei Betreuerinnen um die insgesamt sieben Bewohner. Jeder von ihnen hat eine eigenständige Persönlichkeit, auf die leider nur kurz eingegangen wird. Denn hier liegt das zentrale Problem: Es ist ein Film. Wäre "To The Bone" der Auftakt einer Serie, könnte ich die nächsten Folgen kaum erwarten. Doch leider sind dem Thema nur 107 Minuten vergönnt, in die einfach zu viele Figuren und Nebenhandlungen hineingezwängt wurden. 
Pearl (Maya Eshet) lebt in ihrer eigenen Welt
Foto: Screenshot
Bei Ellens Mitbewohnern wurde das meiste Potenzial verschenkt. Da wäre beispielsweise die deutlich übergewichtige Kendra (Lindsey McDowell), die beim gemeinsamen Essen Erdnussbutter aus einem Glas löffelt. Weshalb sie mit sechs Magersüchtigen zusammenlebt und wieso sie, im Gegensatz zu den anderen, scheinbar nicht gewogen oder therapiert wird, hätte mich wirklich interessiert. Dasselbe gilt für Pearl, deren Bett mit Einhorn- und Pony-Stofftieren bedeckt ist. Die anderen Bewohner gehen extrem vorsichtig mit ihr um und behandeln sie wie ein kleines Kind ("Deine Ponys wollen nicht, dass du weinst. Dein Kätzchen möchte auch nicht, dass du weinst."). Es wäre interessant gewesen, mehr über sie und ihre Geschichte zu erfahren. An den Konflikten in Ellens Familie wird auch nur oberflächlich gekratzt. Eine Konfrontation mit ihrem desinteressierten Vater bleibt aus, der Bruch mit ihrer leiblichen Mutter wird nicht erklärt und die Sorgen von Stiefschwester Kelly beiseite geschoben. Wenn man so viele Charaktere einführt, muss man dem Zuschauer die Zeit geben, sie kennenzulernen. Das wäre auch den Schauspielern gegenüber fair, die ausnahmslos alle sehr berührend und realistisch spielen. Ellen selbst hat eine belastende, künstlerische Vorgeschichte, die jedoch nur in Teilen kurz thematisiert wird. Ich hätte mir gewünscht, dass auf diese und zahlreiche andere angerissene Handlungsstränge verzichtet worden wäre, um die Geschichte zu entlasten, sowie den Fokus deutlicher auf die Protagonistin und ihre Krankheit zu legen.

Der Film schwächt sein Kernthema selbst

Dr. Beckham fragt Ellen, ob sie überhaupt Hilfe will
Foto: Netflix
Überhaupt hat es den Anschein, als wäre Magersucht lediglich der Aufhänger von "To The Bone". Ich könnte mir sogar vorstellen, dass der Streifen nicht grundlegend anders verlaufen wäre, wenn Ellen an etwas anderem leiden würde. Zu Beginn ist das noch anders. Der Zuschauer bekommt hier nicht nur Großaufnahmen von hervorstehenden Knochen zu sehen, sondern erfährt auch einige interessante Fakten über Anorexie (Dr. Beckham [betrachtet Ellens Arm]: "Findest du das gut - die vielen Haare? (...) Wollhaar. Dein Körper will dich warm halten und produziert mehr Haare."). Die Mädchen im Wohnheim unterhalten sich beim Spülen darüber, welche Lebensmittel man am leichtesten erbrechen kann und sprühen vor Freude, wenn sie die Chance haben Kalorien zu verbrennen ("Deshalb gibt es keine Türen. Sie wissen, dass wir den ganzen Tag herumjoggen würden, wenn uns niemand sehen könnte. Als würde eine Skelett-Olympiade stattfinden"). Dennoch wird das Thema Magersucht verhältnismäßig leicht angegangen. Es gibt zwar mehrere Szenen, bei denen einem das Lachen im Hals steckenbleibt, doch die meisten sind eher amüsant als bedrückend. Ob das nun eher ein guter oder ein schlechter Umgang mit diesem kontroversen Stoff ist, lässt sich meiner Meinung nach schwer bewerten, wenn man nicht selbst betroffen ist. 
Balletttänzer Luke hat sich in Ellen verliebt
Foto: Netflix
Im Laufe der Zeit verdrängen die zwischenmenschlichen Probleme, wie Ellens aufkeimende Gefühle für ihren ebenfalls magersüchtigen Mitbewohner Luke (Alex Sharp), dann das Thema Anorexie. Zwar spielt es noch eine wichtige Nebenrolle, doch der Fokus des Films liegt deutlich auf den Konflikten der verschiedenen Charaktere. Das trägt nicht gerade dazu bei, Krankheit und Betroffene besser zu verstehen. Am besten zeigt sich das in den Schlussminuten. Was genau die Protagonistin dazu bewegt, sich schließlich für einen Weg zu entscheiden, kann der Zuschauer nur grob erahnen. Der Sprung in der Handlung ist einfach zu groß, um glaubhaft nachvollziehen zu können, was geschehen ist. Der Verbleib der anderen Figuren wird ebenfalls nicht aufgeklärt. Für einen eindrücklichen Film bleiben zu viele Fragen unbeantwortet, zu viele Charaktere oberflächlich und zu viele wichtige Themen nur angerissen.

Fazit

Mit "To The Bone" hat "Netflix" einen interessanten Film geschaffen, der jedoch nur zaghaft an der Problematik Magersucht kratzt. Das kontroverse Kernthema wird durch andere Aspekte zu sehr in den Hintergrund gerückt. Durch die Fülle von Figuren bleibt auch keine Zeit für eine genauere Betrachtung der einzelnen Persönlichkeiten, was es schwierig macht, sich in sie hineinzuversetzen. Gerade bei einem so relevanten Thema wie Essstörungen wäre es hilfreich, wenn die Motive der Betroffenen besser herausgearbeitet worden wären. Leider ist alles nur sehr vage. In diesem Sinne ist "To The Bone" keine Offenbarung. Separiert man aber das Thema Magersucht vom Rest des Films, lohnt es sich dennoch ihn anzusehen. Vor allem wegen der herausragend guten Schauspieler und einigen amüsanten Onelinern. Ich hoffe, dass "Netflix" das Potenzial des Projekts erkennt und daraus eine Serie macht, in der Charaktere und Nebenhandlungen die Chance haben sich zu entwickeln. Denn so oder so regt "To The Bone" zum Nachdenken an. Meine Mutter hat dabei nicht einmal stricken können.


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