Donnerstag, 2. August 2018

Tatort: Die Musik stirbt zuletzt - Rezension

Die Sommerpause ist endlich beendet! Ab sofort sind wir wieder mit Rezension und Live-Tweets (@WatchReadTalk) bei jedem Sonntagskrimi dabei.


Im Kultur- und Kongresszentrum Luzern findet ein Konzert des argentinischen "Jewisch Chamber Orchestra" statt, das Stücke von Komponisten spielt, die in Konzentrationslagern gestorben sind. Der sündhaft teure Benefiz-Abend wird von Unternehmer Walter Loving (Hans Hollmann) veranstaltet, der einst selbst zahlreichen Juden bei der Flucht vor den Nazis geholfen hat. Kurz vor Beginn der Vorstellung bekommt die bekannte jüdische Pianistin Miriam Goldstein (Teresa Harder) einen Drohanruf: Sie werde den Abend nicht überleben. Schon während des ersten Stücks bricht ihr Bruder, der Klarinettist Vincent Goldstein (Patrick Elias), würgend zusammen. Er ist Opfer eines Giftanschlags geworden. Kommissarin Liz Ritschard (Delia Mayer), die privat vor Ort ist, beginnt sofort mit den Ermittlungen. Später stößt auch ihr Kollege Reto Flückiger (Stefan Gubser) dazu. Gemeinsam versuchen sie eine Massenpanik zu verhindern und gleichzeitig die anwesenden Reichen und Schönen zu befragen. Da die Goldsteins planten, am Ende des Konzerts ein lang gehütetes Geheimnis zu enthüllen, mangelt es nicht an Verdächtigen...

Chapeau an alle Beteiligten für die Präzision!

Passend gekleidet für's Theater...
Foto: SRF
Vor drei Jahren sorgte der Spielfilm "Victoria" von Regisseur Sebastian Schipper (spielte von 2013 bis 2015 die Rolle des Kommissar Jan Katz in den Falke und Lorenz "Tatort"-Folgen) für Furore. Der Grund: Die vollen 140 Minuten wurden in einer einzigen Kameraeinstellung gedreht und ungeschnitten veröffentlicht. Dasselbe Experiment wagt nun auch der "Tatort" aus Luzern. An vier Abenden wurde die komplette Folge durchgespielt - dabei folgte Kameramann Filip Zumbrunn den Schauspielern durch das Kultur- und Kongresszentrum. Wer den fertigen Krimi sieht, hat eine gute Vorstellung davon, wie aufwändig die Inszenierung gewesen sein muss. Rund zwei Dutzend Schauspieler, sicher hundert Statisten und ein ganzes Drehteam mussten immer genau wissen, an welcher Stelle sie zu stehen haben, um den Ablauf nicht zu behindern. Ein einziger Texthänger, Stolperer oder verpasster Einsatz hätte die Aufnahme ruiniert und alles hätte zum Anfang zurückkehren müssen. Vor allem, wenn man bedenkt, dass unter den Darstellern auch Kinder und ein 85-Jähriger sind. Außerdem mussten alle Beteiligten den kompletten Ablauf und die Dialoge der Folge im Kopf haben - wie bei einem Theaterstück, nur in einem ganzen Gebäude, statt in einer einzigen Kulisse. Daher an dieser Stelle eine virtuelle Standing Ovation für alle Beteiligten! Ich hoffe wirklich, dass den Fernsehzuschauern bewusst sein wird, was für ein unglaublicher Mehraufwand in diesem "Tatort" steckt, bevor sie ihn bewerten. Eine Sache hat mich besonders überrascht: Mir sind die fehlenden Schnitte gar nicht aufgefallen. Ich hatte damit gerechnet, dass die immer gleiche Perspektive eintönig werden würde, doch Zumbrunn ist stets in Bewegung und fängt die Szenerie blitzschnell von allen Seiten ein - das Bild wackelt dabei nicht einmal. Zwar fehlen einige übliche Einstellungen, wie beispielsweise Detailaufnahmen, doch das macht wirklich keinen Unterschied. Ich habe schnell vergessen, dass es sich beim Gesehenen um eine einzige Kamerafahrt handelt. 

Inszenierung top, alles andere... ausbaufähig

Franky Loving (2.v.r.) ist der allwissende Erzähler
Foto: SRF/Hugofilm
Die fantastische handwerkliche Inszenierung täuscht allerdings nicht über die seltsame, verwirrende und wenig stimmige Handlung hinweg. Immer wieder durchbricht der Charakter Franky Loving (Andri Schenardi) die vierte Wand und spricht den Zuschauer direkt an. Dabei kommen Erinnerungen an den vermeintlich künstlerischen "Tatort: Im Schmerz geboren" hoch, bei dem es ebenfalls einen Erzähler gab, der die Handlung nüchtern und seriös begleitet hat. Die Schweizer gestalten das Ganze jedoch weit weniger hochtrabend. Frankys Kommentare sind nicht informativ, sondern eher auf Klamauk getrimmt ("Willkommen in Luzern - hier riecht die Schweiz noch nach der Schweiz!"). In einigen kurzen Momenten gibt er interessante Einblicke in das Konzept der Folge, indem er beispielsweise zugibt, dass er gerade nur rede, um die Fahrt der Kamera von einem Ort zum anderen zu überbrücken. Auch macht er keinen Hehl daraus, sich in einer fiktiven Geschichte zu befinden ("Ein bisschen kürzer als andere 'Tatorte', aber immer noch okay, ja?"). Allerdings ist die Figur derart seltsam und aufdringlich, dass sie den Fluss der Handlung stört. Vor allem im Hinblick auf das ernste Thema des Krimis: das Gedenken an die von Nazis ermordeten, jüdischen Komponisten und die oberen 10.000, die das Event nutzen, um sich selbst zu feiern. Statt sich auf diese spannenden und wichtigen Aspekte zu konzentrieren, wird die Aufmerksamkeit der Zuschauer immer wieder auf Franky und seine fast ebenso schrägen Familienmitglieder gelenkt: Seine Mutter Alice Loving-Orelli (Sibylle Canonica), sein Vater Walter und dessen Verlobte Jelena Princip (Uygar Tamer) - oder zumindest glaube ich das, denn die Familienverhältnisse werden sehr verzerrt dargestellt (Welcher erwachsene Mann gibt seiner Mutter einen langen Kuss auf den Mund?). Deren Auftreten ist so übertrieben exzentrisch, dass es unmöglich ist, die Charaktere ernst zu nehmen.
Spielen hier nur Nebenrollen: Flückiger und Ritschard
Foto: SRF/Hugofilm
Ähnlich verhält es sich mit den Ermittlern. Kommissar Flückiger kommt, wie sollte es auch anders sein, direkt von einem Fußballspiel - in Trikot, Shorts und Flip-Flops ("Schick' mir 'ne SMS, wenn's ein Tor gibt!"). Natürlich zieht er damit die Blicke der Reichen und Schönen auf sich. Er hat mit seinem Outfit aber ein deutlich kleineres Problem als seine Kollegin. Die erleidet fast einen Nervenzusammenbruch, als sie erfährt, dass er ihr keine Wechselklamotten mitgebracht hat und sie - genau wie sämtliche andere anwesenden Frauen - weiter im Abendkleid herumlaufen muss. Diese kleinen Szenen fallen negativ auf, da sie völlig aus dem Zusammenhang gerissen erscheinen und nicht erklärt werden. Sie lenken von der eigentlichen Handlung ab und wirken, als seien Drehbuchautor Dani Levy, der auch Regie führt, die Ideen ausgegangen. So werden beispielsweise noch eine Schwangerschaft, eine einstige Affäre von Liz Ritschard und ein seit Jahrzehnten gehütetes Geheimnis aus dem Hut gezaubert. Wer eigentlich den Giftanschlag verübt hat, wird letztendlich in einem Nebensatz aufgeklärt, obwohl das Geständnis nicht einmal ehrlich klingt. Statt der üblichen Polizeiverhöre, Besuche in der Rechtsmedizin und Verfolgungsjagden bekommt der Zuschauer vor allem eins zu sehen: Aufzüge. Da das Kameraequipment scheinbar nicht dafür gemacht war, die Treppen hoch- und runtergetragen zu werden, steigen die Akteure bei jeder sich bietenden Gelegenheit in einen Aufzug. An diesem Ort spielt gefühlt ein Viertel der Handlung. Aber dafür wird der Zuschauer gegen Ende mit einer ganz besonderen Kulisse belohnt: Ein Regenwald, der plötzlich hinter einer Tür auftaucht und einen faszinierenden Stilbruch darstellt. Trotz der sperrigen, übertrieben theatralischen Handlung kann definitiv gesagt werden, dass Flückigers und Ritschards 13. gemeinsamer Fall viel interessanter und fesselnder ist, als die meisten vorherigen. Schade, dass die beiden Schweizer ausgerechnet jetzt aussteigen.

Fazit

"Die Musik stirbt zuletzt" ist ein handwerklich beeindruckender "Tatort", bei dem in jeder Sekunde deutlich wird, wie viel Arbeit und Planung in ihm stecken. Inszenierung, Kameraarbeit und Timing funktionieren so perfekt, dass die fehlenden Schnitte kaum auffallen. Dennoch lenken die technischen Aspekte nicht völlig von der unstimmigen, schrägen Geschichte ab. Der Kriminalfall spielt nur eine untergeordnete Rolle, während sich mehrere überdrehte, lebensferne Charaktere in den Vordergrund drängeln. Das ist im Angesicht des ernsten Kernthemas sehr bedauernswert. Hoffentlich wird dieser "Tatort" wegen seines gelungenen Kamera-Experiments und nicht wegen der kruden Handlung in Erinnerung bleiben.


Kaum ist die Sommerpause vorbei, da macht der Sonntagskrimi leider schon wieder Pause. Nächste Woche überträgt die ARD die "European Championships". Am darauffolgenden Sonntag geht es dann mit dem zweiten regulären Krimi der 2018/2019-Saison, einem "Polizeiruf 110" aus München, weiter. Kommissar Hanns von Meuffels (Matthias Brandt) sieht sich in "Das Gespenst der Freiheit" einem Strudel aus Halbwahrheiten gegenüber, nachdem ein Opfer von Lynchjustiz gestorben ist.

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