Mittwoch, 14. Februar 2018

Netflix Original Serien - Kurzrezensionen (Teil 5)

"Netflix" bringt jeden Monat mehrere neue Eigenproduktionen heraus. In unserer Reihe "Kurzrezensionen" legen wir daher besonders Wert darauf, die vorzustellen, die nicht mit großen Werbeplakaten in allen deutschen Städten beworben werden. In den vergangenen drei Teilen  haben wir bereits über zahlreiche Sendungen wie "Paranoid", "Berlin Station", "Greenhouse Academy" und "Travelers" gesprochen (hier kommt ihr zu allen bisherigen Beiträgen - auch zum Thema Filme). Heute geht es um drei neue Serien. Klickt auf die Titel, um euch die Trailer anzuschauen. 

An dieser Stelle gehe ich auf Sendungen ein, die "Netflix" selbst als "Original" bezeichnet, obwohl sie teilweise auch im Fernsehen ausgestrahlt oder von Drittanbietern produziert wurden. Da ich alle englischsprachigen Serien in der Originalversion angesehen habe, kann ich keine Aussagen zu der Qualität der deutschen Synchronisation treffen.


Alias Grace

Grace ist seit rund 15 Jahren in Haft
Foto: Netflix
Die Mini-Serie "Alias Grace" basiert auf dem gleichnamigen Buch der Autorin Margaret Atwood, die auch die Vorlage zur mehrfach Emmy-prämierten Serie "The Handmaid's Tale" geschrieben hat. Der Roman beruht wiederum auf der realen Geschichte um Grace Marks. Das junge Dienstmädchen wurde 1843 im Alter von 15 Jahren des Mordes an ihrem Hausherren schuldig gesprochen. Zuerst sollte sie gehängt werden, dann wurde ihre Strafe in eine lebenslange Haft umgewandelt. Zu Beginn der Serie sitzt Grace (Sarah Gadon) bereits seit rund 15 Jahren im Gefängnis. Ihre Verteidiger wollen sie begnadigen lassen, dafür bitten sie den jungen Psychologen Dr. Simon Jordan (Edward Holcroft) um ein positives Gutachten. Die Verurteilte behauptet jedoch, keine Erinnerungen an die Stunden zu haben, in denen ihr Herr Thomas Kinnear (Paul Gross) und seine Haushälterin Nancy Montgomery (Anna Paquin) ermordet wurden. Dr. Jordan will die Wahrheit herausfinden und lässt Grace ihre Geschichte erzählen: Von dem Moment an, wo sie im Alter von 12 Jahren mit ihrer Familie in Irland ein Schiff nach Kanada nahm, bis zu dem Zeitpunkt, an dem sie gemeinsam mit ihrem verurteilten Komplizen James McDermott (Kerr Logan) vom Grund ihres toten Herren floh. Dr. Jordan gerät dabei immer mehr in den Bann der  vermeintlichen Mörderin und ihrer Geschichte.

Mary (2.v.l.) war Graces (3.v.l.) einzige Freundin
Foto: Netflix
"Alias Grace" ist definitiv keine Serie, die man nebenher beim Essen guckt und bei der man zwischendurch auch mal eine Pause einlegt. Die Erzählweise ist so fesselnd, dass die sechs Folgen wie im Flug vergehen. Dabei ist die Handlung nicht einmal extrem spannend, doch durch die fantastische Musik und die realistisch wirkende Atmosphäre wird der Zuschauer sofort in den Bahn der Geschichte gesogen. Das liegt vor allem an den beiden Hauptcharakteren. Grace erscheint auf den ersten Blick genügsam, naiv und auch ein wenig einfältig. Man verfolgt ihre Erzählungen und erfährt dabei, was sie in ihrem Leben schon alles ertragen musste - die furchtbare Übersiedlung nach Kanada in einem viel zu kleinen Schiff, auf dem ihre Mutter starb; die übergriffigen Avancen einiger Männer - darunter ihr eigener Vater und der Tod von Graces Freundin Mary Whitney (Rebecca Liddiard), die eine illegale Abtreibung nicht überlebte. Einige dieser Szenen wirken so realistisch, dass es fast wehtut, sie anzusehen. Die Serie zeigt schonungslos, wie die Situation einer jungen, mittellosen Frau im 19. Jahrhundert ausgesehen hat, ohne dabei auf extreme Schockeffekte oder Melodramatik zu setzen. Im krassen Gegensatz dazu steht Dr. Jordan: Ein gut aussehender, erfolgreicher Mann aus reichem Hause, der sich noch nie mit solchen Problemen auseinandersetzen musste. Er kommentiert Graces Geschichte zwar so gut wie gar nicht, doch anhand seiner Miene erkennt der Zuschauer, wie sie ihn berührt und schockiert.
Dr. Jordan ist nicht sicher, ob Grace schuldig ist
Foto: Netflix
Die beiden Hauptdarsteller sind die ganz große Stärke der Serie. Sarah Gadon und Edward Holcroft stellen ihre Rollen mit so einer zwanglosen Selbstverständlichkeit dar, als habe man sie aus dem 19. Jahrhundert importiert. Das Besondere ist, wie ruhig und unaufgeregt sie die meiste Zeit über wirken. Trotz der bedrückenden Themen und der teils beunruhigenden Geschichte spielen beide sehr minimalistisch. Mimik und kleine Gesten reichen, um dem Zuschauer einen umfassenden Einblick in das Seelenleben der beiden Figuren zu geben. Die Momente, in denen Grace und Dr. Jordan so emotional aufgewühlt sind, dass sie aus ihrer bisherigen Rolle fallen, sind sogar noch überzeugender. In der letzten Folge zeigen beide eine ganz andere Seite an sich, was wirklich verstörend mit anzusehen ist, da es sich so anfühlt, als wäre der Zuschauer von den beiden Charakteren die ganze Zeit belogen worden. Besonders Sarah Gadon legt in diesen Szenen einen Emmy-würdigen Auftritt hin. Sie schafft es Grace so fremd darzustellen, dass es scheint, als sei das schüchterne, naive Mädchen komplett ausgelöscht worden. Sogar ihre Stimme klingt völlig anders. Ich habe tatsächlich erst in der letzten Folge realisiert, dass die Schauspielerin keine Irin ist, sondern den Akzent die ganze Zeit über imitiert hat. Die echte Grace Marks wurde nach knapp 30 Jahren begnadigt und freigelassen - danach verlor sich ihre Spur. Da niemals geklärt wurde, welche Rolle sie genau im Mordfall gespielt hat, folgt die Serie dem Ende des Buches. Es ist im Vergleich zum Rest der Sendung ein wenig enttäuschend - legt allerdings die Steilvorlage für die oben angesprochenen spannenden Brüche in den Charakteren.


Retribution

Opfer oder Täter, das ist die Frage
Foto: Netflix
Die schottische Mini-Serie "One of Us" wurde 2016 in der BBC ausgestrahlt. Anfang 2018 folgte die internationale Veröffentlichung als "Netflix Original" unter dem neuen Titel "Retribution". Darum geht's: Die beiden Kindheitsfreunde Adam Elliot (Jeremy Neumark Jones) und Grace Douglas (Kate Bracken) wurden nur zwei Wochen nach ihrer Hochzeit brutal ermordet. Die Polizisten Juliet Wallace (Laura Fraser) und Andrew Barker (Steve Evets) finden in dem mental instabilen Junkie Lee Walsh (Owen Whitelaw) schnell einen Hauptverdächtigen. Der ist derweil unterwegs zu den weit abgelegenen Höfen der beiden trauernden Familien. Vor Ort kommt er mit seinem geklauten Wagen von der Straße ab. Adams Mutter Louise (Juliet Stevenson), seine Schwester Claire (Joanna Vanderham), sein Bruder Rob (Joe Dempsie) und dessen Freundin Anna (Georgina Campbell) retten den Schwerverletzten. Als sie Hilfe bei Graces Eltern Bill (John Lynch) und Moria (Julie Graham) suchen, sehen sie im Fernsehen einen Suchaufruf und erkennen Walsh. Die beiden Familien sperren den vermeintlichen Mörder ihrer Kinder in einem alten Zwinger ein. Am nächsten Morgen ist dem Mann die Kehle durchgeschnitten worden. Wer hat ihn auf dem Gewissen und was ist in der Nacht, als Grace und Adam starben, wirklich passiert?

Einer von ihnen hat den Mörder ermordet. Wer?
Foto: Netflix
"Retribution" hat zwei zentrale Handlungsstränge. Der eine ist die Mordermittlung der Polizisten Wallace und Barker. Deren Weg kreuzt sich später mit dem Weg der anderen Geschichte, dem verzweifelten Versuch der beiden Familien mit dem Geschehenen fertig zu werden und ihren eigenen Mord an Walsh zu vertuschen. Es gibt nicht viele Nebenschauplätze, Effekte oder andere ablenkende Elemente. Die Serie wird praktisch ausschließlich von den vielschichtigen Charakteren getragen. Jeder macht während der gerade einmal vier Folgen eine Wandlung durch. Zu keinem Punkt kann sich der Zuschauer sicher sein, dass er die Figuren tatsächlich kennt. Das erzeugt eine prickelnde Spannung, die die Geschichte noch düsterer und melancholischer erscheinen lässt, als sie sowieso schon ist. Die tollen Schauspieler verstärken diesen Effekt noch. Blass, praktisch ungeschminkt und kraftlos schleppen sie sich durch die Handlung - sie stellen die tiefe Trauer, den Schock über die Begegnung mit dem Mörder und die Angst, entdeckt zu werden, sehr realistisch dar. Ganz besonderes Lob gilt hier Juliet Stevenson, die für ihre Rolle als beste Schauspielerin für den schottischen BAFTA Award nominiert wurde. Sie spielt die Mutter des ermordeten Adams auf der einen Seite herzzerreißend, auf der anderen aber auch voller Tatendrang und Stärke.
Claire will als Einzige ehrlich zur Polizei sein
Foto: Netflix
Damit steht sie sinnbildlich für die ganze Serie, denn die lebt von dem Zwiespalt zwischen Opfer und Täter: Lee Walsh zum Beispiel, der zwar vermutlich für die Morde an Adam und Grace verantwortlich ist, aber selbst schwer verletzt eingesperrt und getötet wurde. Die einzige Geschichte, die in diesem Zusammenhang aus dem Rahmen fällt, ist die von Polizistin Juliet Wallace. Einerseits ist sie eine toughe, rechtschaffene Ermittlerin, andererseits verkauft sie Drogen, um die experimentelle Krebstherapie ihrer Tochter Maddy (Isis Hainsworth) zu bezahlen. Diese Nebenhandlung wirkt sehr melodramatisch und an den Haaren herbeigezogen, da dem Zuschauer der Hintergrund fehlt, um nachvollziehen zu können, wieso niemand Wallace auf die Schliche kommt und wie es ihr dabei geht. Durch die platte Erzählweise und die Gefühlsduselei  passt dieser unnötige Nebenschauplatz nicht zum Rest der Serie. Die einzige vergleichbar schlechte Stelle ist das Ende. Der Zuschauer erfährt, zusammen mit den meisten Charakteren, warum Grace und Adam sterben mussten. Die Erklärung ist jedoch extrem hanebüchen, lässt viele Fragen offen und ist eher schlechtes Drama als Thriller. Auf das Gesamtbild bezogen, ist die Auflösung doch irgendwie stimmig, denn sie zeigt, wie sinnlos die Morde eigentlich waren. Obwohl das Paar schon von Beginn der Serie an tot ist, leidet der Zuschauer dank des fantastischen Einstiegs in der ersten Folge dennoch mit ihnen: Adam erzählt auf der Hochzeit seine und Graces Liebesgeschichte - begleitet von alten Homevideos, auf denen die beiden als Kleinkinder, Teenies und Studenten zu sehen sind. Das Paar und seine Gäste lachen und feiern ausgelassen. Dann zoomt die Kamera nach hinten und es wird klar, dass es sich bei den Bildern um das Hochzeitsvideo handelt, das gerade über den Fernseher flimmert. Davor liegen die blutüberströmten Leichen von Grace und Adam.


Glacé

Wer steckt hinter den Morden?
Foto: M6
Die französische Mini-Serie "Glacé" basiert auf dem gleichnamigen Buch des Autoren Bernard Minier und wurde vom Fernsehsender M6 produziert. Seit dem 1. Januar ist sie als "Netflix Original" international verfügbar. Die Handlung beginnt wenige Tage vor Weihnachten: In den verschneiten Pyrenäen wird die kopflose Leiche eines Pferdes gefunden. Es gehörte dem einflussreichen Geschäftsmann Eric Lombard (Robert Plagnol). Da der Fall somit eine gewisse Brisanz hat, wird die lokale Polizeichefin Irène Ziegler (Julia Piaton) vom erfahrenen Kommissar Martin Servaz (Charles Berling) aus Toulouse unterstützt. In einer kleinen Kapelle finden die beiden den Kopf des toten Tieres und in dessen Blut die Haare des verurteilten Frauenmörders Julian Hirtmann (Pascal Greggory). Servaz hatte seinen einstigen Freund vor einigen Jahren überführt. Der Killer sitzt allerdings in einer geschlossenen Psychiatrie und kann das Pferd nicht getötet haben. Wenige Tage später wird eine weitere Leiche gefunden - diesmal eine menschliche. Es ist nicht die Letzte. Die Ermittler vermuten, dass einer der psychiatrischen Mitarbeiter im Auftrag von Hirtmann mordet. Wer hätte ein Motiv?

Hochachtung für das Drehteam bei so einem Wetter!
Foto: Netflix
Genau wie "Retribution" zieht auch "Glacé" einen Großteil der Spannung aus der düsteren Atmosphäre. Die Serie beginnt auf einem Berg, der so tief verschneit ist, dass das Kamerabild keine zehn Meter weicht reicht. Der rustikale, kühle Stil, der sich beispielsweise auch in der Musikauswahl widerspiegelt, lässt die ganze Szenerie unheimlich wirken. Zumindest in den ersten zwei Folgen, in denen die beiden Ermittler durch die kühle Landschaft fahren und Verdächtige befragen. Hier erinnert "Glacé" an die (deutlich bessere) "Netflix"-Serie "The Killing". In den weiteren Episoden kommen allerdings so viele zusätzliche Charaktere und Nebenhandlungen dazu, dass die Geschichte immer mehr verwässert. Dadurch kann auch die spannende, bedrohliche Stimmung nicht aufrecht erhalten werden. Gegen Ende wirkt die Serie sehr abgehackt. Ein paar Minuten ist der Fokus auf einer Figur, im nächsten Moment auf einer anderen... Das gute Zusammenspiel der Hauptpersonen geht immer mehr verloren, da sie sich praktisch gar nicht mehr begegnen. Jede der gefühlt zwanzig Personen ist alleine unterwegs und macht irgendetwas. Anstelle die einzelnen Handlungen intensiver zu begleiten, sodass der Zuschauer die Situation und die Charaktere besser kennenlernt, versucht Regisseur Laurent Herbiet möglichst viele unterschiedliche Ansichten in jeder Folge zu zeigen, wodurch die Geschichte immer hektischer wird. Wer da noch den Überblick behalten will, sollte nebenher nichts anderes machen.
Der Stil des Vorspanns & die Symbolik sind grandios
Foto: Screenshot
Lohnen tut sich diese Aufmerksamkeit aber nicht. Wie schon die anderen beiden Serien auf dieser Liste, hat auch "Glacé" ein schwaches Ende. Bei "Alias Grace" und "Retribution" fand ich das schade, weil ich Anteil an den Figuren und der Handlung genommen habe. Beim französischen "Netflix"-Original war es mir relativ egal, da die Charaktere so einseitig und distanziert sind, dass es nicht wirklich möglich ist, eine Verbindung zu ihnen aufzubauen. Letztendlich ist die Auflösung überhaupt nicht überraschend. Wie der Showdown aussehen wird, ist schon während der ersten Episode offensichtlich. Die Identität des Mörders geht dabei völlig unter, auch weil sich die Sendung zu wenig mit ihm und seinem Motiv beschäftigt. Das einzige, was von "Glacé" nachhaltig im Gedächtnis bleibt, ist der wunderschöne Vorspann. Dabei taucht der Zuschauer in ein Gemälde ein, wodurch die gemalten Figuren, ein Rudel Wölfe, ein Reh und eine dunkle Gestalt, wie in 3D erscheinen. Das sieht wirklich spektakulär aus und ist richtig gut gemacht. Die Musik dazu ist herrlich mysteriös und wunderlich. Das kann vom Rest der Serie leider nicht gesagt werden.


Das waren meine "Netflix"-Kurzrezensionen. Da der Streaming-Anbieter immer wieder neue Serien und Staffeln herausbringt, wird es sicher nicht der letzte Beitrag zu diesem Thema sein. Alle Posts zum Thema "Netflix" findet ihr hier.

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