Am Elbufer wurde die Leiche des neunjährigen Rico Krüger (Joel Simon) gefunden - fast nackt in eine Sporttasche gezwängt. Beim Dresdner Kommissariatsleiter Peter Michael Schnabel (Martin Brambach, Das Leben danach) brechen alte Wunden auf: Im Jahr 2014 war es ihm nicht gelungen, das Verschwinden eines anderen kleinen Jungen aufzuklären. Seinen Frust lässt er an den Kommissarinnen Henni Sieland (Alwara Höfels, Allein gegen die Zeit) und Karin Gorniak (Karin Hanczewski) aus, die verzweifelt nach einer Spur suchen. Schließlich erhalten sie einen Tipp von der Schulbeamtin Jennifer Wolf (Alice Dwyer): Ricos Schwimmtrainer Micha Siebert (Niels Bruno Schmidt) musste seinen Job als Lehrer aufgeben, da er eine Liebesbeziehung mit einem minderjährigen Schüler hatte. Als Stefan (Jörg Malchow), der Stiefvater des toten Jungen, davon erfährt, geht er auf Siebert los. Dabei verletzt er auch die beiden Kommissarinnen. Im Krankenhaus stößt Sieland schließlich auf den entscheidenden Hinweis. Doch sie müssen sich beeilen, denn der Pädophile hat schon sein nächstes Opfer im Visier.
So klasse, dass es fast wehtut!
Das Bild illustriert den Krimi perfekt
Foto: MDR
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Die erste Folge des Dresdner "Tatort"-Teams war von Klamauk geprägt - bis auf die Schlussminuten. In denen fanden die Ermittlerinnen die Leiche ihrer jungen Kollegin Maria Magdalena Mohr (Jella Haase, Das Leben danach), die brutal zu Tode getreten worden war. Zum Klamauk sind Sieland und Gorniak danach nicht mehr zurückgekehrt - auch wenn "Level X" hart an der Grenze war. Wirklich ernst ging es bei diesem Team aber nie zu. "Déjà-vu" bildet nun die (erste) krasse Ausnahme, denn dieser Fall geht an die Nieren. Dem Zuschauer wird nichts erspart. Darauf stimmt der bislang jüngste "Tatort"-Regisseur Dustin Loose (31) früh ein: Er zeigt ungeschönt die fast nackte Leiche des kleinen Jungen in der Sporttasche - umringt von Mitarbeitern der Spurensicherung, Werkzeug und Steinen. Der ohnehin schon furchtbare Anblick wird verschlimmert, als die Kommissarinnen sich dazu durchringen, den Stiefvater des kleinen Rico an den Tatort zu lassen. Seine verzweifelten Schreie gehen durch Mark und Bein. Die Gaffer hält das nicht ab (Gorniak: "Alle machen Fotos. Widerlich. Wann sind die Leute nur so krank geworden?" Sieland: "Die waren immer schon so. Früher gab es nur keine Smartphones."). Es ist früh offensichtlich, wer der Mörder ist. Das nimmt dem Fall allerdings keinesfalls die Spannung. Parallel zu den Ermittlungen wird gezeigt, wie sich der Pädophile an sein nächstes Opfer, den Zweitklässer Oskar (Finley Berger), heranmacht. Kaum ein Sonntagskrimi war in den letzten Monaten so fesselnd wie dieser. Es tut weh, die harmlosen, spielerischen Szenen zwischen den beiden zu sehen und zu wissen, was der Erwachsene damit bezweckt. Die Frage, ob Sieland und Gorniak Oskar finden, bevor er missbraucht wird, spannt viel intensiver auf die Folter, als es eine Mördersuche je gekonnt hätte. Dieser "Tatort" lebt von seiner Atmosphäre, die obgleich aller Verzweiflung und Anspannung nie in Melodramatik oder Effekthascherei abrutscht. Denn trotz der überbrodelnden Emotionen auf allen Seiten bleibt die Folge sachlich.
Stefan und Sandra trauern um ihren Sohn
Foto: MDR/Wiedemann & Berg/Daniela Incoronato
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Das liegt vor allem an Alwara Höfels und Karin Hanczewski, die einen kühlen Kopf bewahren - obwohl der Krimi im Hochsommer spielt. Viele ihrer "Tatort"-Kollegen setzten bei ernsten Themen ein betroffenes Gesicht auf und halten das bis zum Abspann. Höfels und Hanczewski zeigen in "Déjà-vu", dass es auch anders geht. Sie lassen die Kommissarinnen angemessen reagieren - sei es mit Wut beim Anblick der Kinderleiche oder mit Hilflosigkeit im Angesicht der trauernden Eltern. Dabei bleiben die beiden dennoch professionell - nur um nach der Arbeit alle aufgestauten Emotionen herauszulassen, doch dazu später mehr. In einer Szene knallt ihr Chef Schnabel einem Journalisten an den Kopf, dass auch Polizisten von einem solch furchtbaren Verbrechen mitgenommen werden. Das ist ein Punkt, der, meiner Meinung nach, in Krimis häufig zu wenig oder falsch thematisiert wird. Entweder mutieren die Ermittler zu seelischen Wracks, die sich saufend und jammernd durch den Fall schleppen oder sie zeigen fast keine Regung. Höfels und Hanczewski finden im Zusammenspiel mit dem Drehbuch (Mark Monheim und Stephan Wagner) einen guten Mittelweg, in dem die Kommissarinnen menschlich und dennoch diszipliniert sind. Jörg Malchow und Franziska Hartmann zeigen als Eltern des Opfers ebenfalls eine sehr gute schauspielerische Leistung. Ihre Verzweiflung und ihr Kummer wirken unglaublich echt und berührend. Am effektvollsten ist die Szene, in der Ricos Stiefvater den Schwimmtrainer seines Sohnes brutal zusammenschlägt und sich nicht durch die beiden Kommissarinnen aufhalten lässt. Malchow geht in dem blanken Hass auf und zeigt eindrücklich, wozu Menschen fähig sein können, wenn man ihnen das Liebste nimmt. Ein großes Lob auch an Kinderdarsteller Finley Berger. Er wirkt als Oskar so unbedarft, bis zu dem Moment, wo er zögert, die Schwelle zur fremden Wohnung zu übertreten. Danach lässt er den Zuschauer durch angespannte Körperhaltung und unsicheren Blick wissen, dass er die Gefahr spürt.
Im Dienst topfit, zu Hause nervlich am Ende
Unbekannte haben Micha Sieberts Auto angezündet
Foto: MDR/Wiedemann & Berg/Daniela Incoronato
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Ein große Stärke der Folge ist, dass sie die Situation vieler verschiedener Charaktere beleuchtet. So erlebt der Zuschauer nicht nur die Wut der Eltern, sondern auch deren Auswirkungen. Schwimmtrainer Micha Siebert wird wegen eines Zeitungsartikels für Ricos Mörder gehalten. Schon steht er im Zentrum einer Hexenjagd. "Sowas bleibt an einem kleben", sagt er tonlos zu Gorniak, als die ihn davon überzeugen will, dass sich der Mob irgendwann beruhigen wird. Diese verschiedenen Perspektiven zeigen eindrucksvoll, wie viele Leben ein Gewaltverbrechen zerstören kann. Trotzdem kommen einige Charaktere zu kurz. Am deutlichsten ist das bei der Schulbeamtin Jennifer Wolf. Sie und ihre Motivation bleiben sehr blass und holzschnittartig. Besonders ihre Rolle im Fall wäre sehr interessant gewesen, wird aber nur knapp am Ende angesprochen. Kommissariatsleiter Schnabel bleibt ebenfalls farblos. Im Gegensatz zu seinen Kolleginnen ist er im Dienst nicht besonnen und scheint die Fähigkeit, in normaler Zimmerlautstärke zu sprechen, verloren zu haben. In fast jeder seiner Szenen schreit er entweder Journalisten oder seine Mitarbeiter an. Das wird auf die Dauer nervig und unglaubwürdig. In den vorherigen Folgen wurde er als Ermittler etabliert, der trotz antiquierter Meinungen und Streitbarkeit, immer solide Arbeit abliefert. Dazu passt es nicht, dass er eine Kollegin zurechtweist: "Sie bringen nur beschissene Nachrichten!" Es ist dieselbe Frau, von der er an anderer Stelle sagt, die Beamten sollten sich ein Beispiel an ihr nehmen.
Aaron (l.) und Nick sind von Karin genervt
Foto: MDR/Wiedemann & Berg/Daniela Incoronato
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Während Schnabel der Fall schwer zu schaffen macht, verlieren die beiden Kommissarinnen im Privatleben die Nerven. Karin Gorniak hat eine Affäre mit ihrem Nachbarn Nick (Sebastian Zimmler) und glaubt, ihr Sohn Aaron (Alessandro Schuster) wisse nichts davon. Eines Abends sieht sie, wie die beiden knapp bekleidet Videospiele spielen. Außerdem hat Nick Aaron sein altes Smartphone geschenkt. Es ist verständlich, dass sich Karin mit dem Fall Rico im Hinterkopf Gedanken um die Motive ihres Nachbarn macht. Das Streitgespräch zwischen den beiden wirkt sehr überdramatisiert und aus der Luft gegriffen (Gorniak: "Halbnackt mit kleinen Jungs um die Wette zocken - man könnte fast meinen, du hast mehr Interesse an Aaron als an mir." Nick: "Jetzt mach' mal halblang, willst du mich hier zum Päderasten stempeln?" Gorniak: "Ja, dann rede gefälligst mit mir, bevor du vor Aaron auf Sugar Daddy machst!" Nick: "Klar, ich mach' mich an die bedürftige Mutti ran, aber in Wirklichkeit will ich ihren Prinzen knacken. Wie kaputt bist du eigentlich?"). Während Gorniaks Beziehung, von der der Zuschauer sowieso nicht wirklich etwas mitbekommen hat, zu Ende geht, erhält auch Sieland eine Hiobsbotschaft. Sie hat sich zuvor am Tatort übergeben, daher ist es wohl für niemanden - außer Henni selbst - überraschend, als der Arzt ihr verkündet, dass sie schwanger ist. In meiner Rezension zum vorherigen Fall "Auge um Auge" habe ich übrigens gemutmaßt, ob der schwer in Sieland verliebte Kriminaltechniker Ingo Mommsen (Leon Ullrich) am Ende aus der "Friendzone" entkommen ist... "Déjà-vu" ist Alwara Höfels vorletzter Fall. Die Kommissarin wird also vermutlich wegen ihrer Schwangerschaft oder der daraus resultierenden Komplikationen aussteigen. Die Dresdner sind das bislang einzige rein weibliche Ermittlerduo in 48 Jahren "Tatort". Dementsprechend ist es schade, dass Sieland wohl einen so klischeehaften Ausstieg bekommt - immerhin ist Gorniak alleinerziehende Mutter und Kommissarin.
Fazit
"Déjà-vu" ist der bislang beste Dresdner "Tatort" und schon jetzt eins der ganz großen Highlights der 2017/2018-Saison. Der Fall ist spannend und berührend, was vor allem an den verschiedenen Perspektiven liegt. Der Zuschauer erfährt durch sie einiges über den Täter, sein Umfeld, die trauernden Familien und die Gefahr, die von falschen Anschuldigungen ausgeht. So wirkt die Thematik lebendiger, echter und kommt ohne künstliche Dramatik aus. Die Darsteller sind ebenfalls sehr gut, auch wenn einige Charaktere ein wenig blass und eindimensional bleiben. Dasselbe gilt für die persönlichen Konflikte der Ermittlerinnen, die zu gewollt zum Thema passen. Glücklicherweise sind das die einzigen Szenen, in denen der Fall in die Theatralik abrutscht. Ansonsten ist er trotz der hohen emotionalen Spannung angenehm schlicht und ein Krimi, der sowohl traditionellen als auch experimentierfreudigen Zuschauern gefallen wird.
Der "Tatort" in der nächsten Woche kommt aus Dortmund. Die Kommissare Peter Faber (Jörg Hartmann), Martina Bönisch (Anna Schudt) und Nora Dalay (Aylin Tezel) ermitteln zum ersten Mal nur zu dritt. In einem Gefängnis müssen sie aufklären, wer einen Häftling mit Tollwut infiziert hat. Dabei treffen sie auch auf ihren alten Widersacher Markus Graf (Florian Bartholomäi), der vermutlich Fabers Frau und Tochter auf dem Gewissen hat.
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