Freitag, 22. September 2017

Das Leben danach (2017) - Rezension

Am 24. Juli 2010 kamen hunderttausende Menschen zur Loveparade, einem Technofestival, das in diesem Jahr in Duisburg auf einem alten Bahngelände stattfand. Der Hauptzugang führte durch einen rund 400 Meter langen Tunnel. Gegen 15 Uhr bekam der Veranstalter Probleme, den Fluss der kommenden und gehenden Besucher zu regeln. Es strömten von beiden Seiten immer mehr Menschen nach - bis schließlich etwa sechs Personen pro Quadratmeter zusammengepfercht waren. Es brach eine Massenpanik aus, in der die Besucher verzweifelt versuchten aus dem Pulk zu fliehen. Dabei wurden viele überrannt oder zerquetscht. 21 Menschen starben, hunderte wurden verletzt und mehrere Überlebende begingen später Selbstmord. Nach dem Unglück fand keine weitere Loveparade statt. Ein Mahnmal und eine Gedenktafel erinnern heute an die Todesopfer.
Der WDR-Film "Das Leben danach" erzählt die Geschichte einer fiktiven Überlebenden, die das Gesehene und Erlebte nicht verarbeiten kann. Die Erstausstrahlung ist am 27.09.2017 um 20:15 in der ARD.

Antonia Schneider (Jella Haase) stand kurz vor dem Abitur und wollte gemeinsam mit ihrer besten Freundin Betty (Anna Drexler) und deren kleinen Bruder Lukas auf der Loveparade feiern. Doch Betty wurde kurzfristig krank und Antonia musste alleine auf Lukas aufpassen. Im Gedränge verlor sie ihn und erfuhr später, dass er zu den Todesopfern gehörte. Sieben Jahre später kämpft die mittlerweile 24-jährige Protagonistin noch immer gegen die Schuldgefühle und die Panikattacken. Polizeisirenen, die Farbe Rose, Menschenmassen... all das löst bei ihr Erinnerungen an das Gedränge und die Todesangst aus. Vater Thomas (Martin Brambach) und Stiefmutter Kati (Christina Große) sind mit den Nerven am Ende. Eines Nachts zerstört Antonia die Loveparade-Gedenkstätte. Dabei lernt sie den Taxifahrer Sascha (Carlo Ljubek) kennen. Er behauptet ebenfalls in der Massenpanik gewesen zu sein. Als die junge Frau ihn als Lügner enttarnt, richtet sich ihre destruktive Energie gegen ihn und seinen 14-jährigen Sohn Jasper (Jeremias Meyer). 

Die Tragödie hinter der Tragödie

Schon das Poster sieht toll aus
Foto: WDR
Zu Beginn verwüstet Antonia den Ort, der an die Toten des Loveparade-Unglücks erinnern soll. Die Szene ist sehr kurz, sehr roh. Das Mädchen scheint nicht systematisch zu zerstören. Sie braucht augenscheinlich nur ein Ventil für ihre Wut. Später erklärt sie: "Die, die tot sind, das sind die Guten, die ach so Wunderbaren, um die alle trauern können und wir, die überlebt haben, wir sind die Kaputten, die Arschlöcher, die nichts auf die Reihe kriegen." Der "Tatort: Zwei Leben" letzte Woche handelte von einem Mann, der mehrere Selbstmörder überfahren hat. Er hat keine Schuld, er konnte nicht rechtzeitig bremsen. Dennoch leidet er unter Panikattacken und einer posttraumatischen Belastungsstörung. Antonias Geschichte geht in eine ähnliche Richtung: Auch sie fühlt sich schuldig. In beiden Fällen richtet sich die Wut der Betroffenen letztendlich gegen die Toten: Warum haben sie die Überlebenden in ihrem Elend zurückgelassen? Warum dreht sich alles um sie? Während das Thema beim "Tatort" irgendwann traurigerweise im Sand verlaufen ist, konzentriert sich "Das Leben danach" völlig darauf. Keine ablenkenden Nebenhandlungen, nur ein kleines Ensemble... Der Film schafft es der schwierigen Thematik gerecht zu werden - soweit man das beurteilen kann, wenn man am 24. Juli 2010 nicht selbst im Gedränge war. Es wird deutlich, dass die Drehbuchautoren Eva Zahn und Volker A. Zahn intensiv recherchiert und mit Betroffenen gesprochen haben. Zu keinem Zeitpunkt wirkt "Das Leben danach" übertrieben dramatisch oder effektheischend. Regisseurin Nicole Weegmann zeichnet das Bild eines ganz normalen Mädchens, das ohne eigenes Zutun völlig aus der Bahn geworfen wurde und es nie geschafft hat, sich wieder aufzurappeln.
Antonia ist leer und trotzdem voller Emotionen
Foto: WDR/Alexander Fischerkoesen
Daher steht und fällt der Film mit den Schauspielern. Ich muss zugeben: Ich war ein wenig skeptisch, als ich gelesen habe, dass Jella Haase die Hauptrolle spielen würde. Ich kannte sie bislang vor allem allem als "Kult-Assi" Chantal in den "Fack ju Göhte"-Filmen und als strebsame Maria Magdalena Moor im Dresdner "Tatort". Sie spielt die Rolle der Antonia allerdings herausragend gut. Die meiste Zeit über sieht sie zerschlagen aus und hat einen völlig ausdruckslosen Blick. Es ist beeindruckend, wie ihr Gesicht ohne Regung sein kann und der Zuschauer dennoch weiß, wie sie sich gerade fühlt. Antonia hadert nicht pausenlos mit ihrem Schicksal. In einigen Momenten ist sie auch eine ganz normale junge Frau, die sich mit alltäglichen Dingen beschäftigt, beispielsweise, wenn sie mit ihrer Stiefmutter am Küchentisch Witze über ihr geliehenes, aber nie zurückgezahltes Geld reißt. Schon wenige Szenen später steht die Protagonistin vor dem Sarg eines anderen Loveparade-Geschädigten, der sich umgebracht hat und stellt zitternd fest: "Du siehst eigentlich ganz zufrieden aus." Durch diese krassen Kontraste wirkt die Figur sehr lebendig und realitätsnah. Jella Haases eindrückliche Darstellung und Mimik verstärken diesen Effekt noch. 
Kati und Thomas können ihrer Tochter nicht helfen
Foto: WDR/Alexander Fischerkoesen
Die anderen Charaktere sind ebenfalls angenehm realistisch und Klischee-frei. Kati ist beispielsweise keine Märchenbuch-Stiefmutter, die gegen das "fremde" Kind rebelliert. Sie liebt Antonia und macht sich Sorgen um sie, dennoch will Kati die Kontrolle über ihr eigenes Leben zurückzuhaben, da sich alles um Antonia dreht ("Deine Tochter ist kaputt! Die wird einfach nicht mehr!"). Dasselbe gilt für ihren Vater Thomas, der sein unbeschwertes Kind wiederhaben möchte. In einer berührenden Szene kommt er in den Keller, sieht, dass Antonia zum ersten Mal seit sieben Jahren Klavier spielt und setzt sich mit Tränen in den Augen, um ihr zuzuhören. Martin Brambach und Jella Haase hatten bereits in ihrem gemeinsamen "Tatort" eine tolle Chemie, weshalb die Besetzung als Vater-Tochter-Duo sehr passend ist. Auch ihre einzige verbleibende Freundin Betty, Schwester des toten Lukas, fühlt sich immer mehr von Antonia eingeengt und am Leben gehindert. Die Figuren sind alle spannend und es ist leicht, ohne große Erklärungen nachzuvollziehen, weshalb sie Antonia lieben und gleichzeitig irgendwie auch hassen. 

Ende gut, alles gut?

Sascha tröstet die wesentlich jüngere Antonia
Foto: WDR/Alexander Fischerkoesen
Der einzige Charakter, den ich nicht völlig stimmig fand, ist der Taxifahrer Sascha. Für mich waren viele seiner Handlungen nicht schlüssig. So zum Beispiel die Entscheidung, dass er behauptet, beim Loveparade-Unglück dabei gewesen zu sein. Warum ist er innerhalb einiger Minuten so von Antonia besessen, dass er zwanghaft versucht ihr nahe zu sein? An einer Stelle bezeichnet sie ihn scherzhaft als "Stalker". Für mich war er das auch. Vor allem, da er deutlich älter ist als sie. Selbst als seine Vergangenheit langsam ans Licht kam, konnte ich mich nicht besser in ihn hineinversetzen oder ihn sympathisch finden. Wieso er einem labilen und unberechenbaren Mädchen seinen 14-jährigen Sohn vorstellt, hat sich mir auch nicht erschlossen. Letztendlich entjungfert Antonia Jasper, um sich an seinem Vater zu rächen (Jasper: "Wie alt bist du eigentlich?" Antonia: "24." Jasper: "Puh, das ist aber alt." Antonia: "Willst du mich beleidigen oder Liebe machen?"). Erst da scheint Sascha zu realisieren, wie egal der schwer traumatisierten Antonia alles ist ("Früher haben die Väter dafür bezahlt.... Will jemand Kaffee?"). Wieso ihm das vorher nicht bewusst war und wieso genau er "Menschen sammelt", indem er sie in seinem Taxi filmt, all das bleibt im Dunklen.
Die letzte Szene zwischen Thomas, Kati und Antonia am Ende hat mich sehr berührt. Aber die Schlussminute findet zwischen Sascha und der Protagonistin statt und lässt den Film unbefriedigend ausklingen. Wieso sich die beiden plötzlich wieder verstehen, hat sich mir nicht erschlossen und auch der positive Akkord ist leider unglaubwürdig.

Fazit

"Das Leben danach" ist ein berührender Film, der durch seinen realen Hintergrund sehr greifbar wird. Ohne große Erklärungen kann der Zuschauer verstehen, was in Antonia und ihrem Umfeld vorgeht. Obwohl die Geschichte selbst ausgedacht ist, fällt es nicht schwer zu glauben, dass es Dutzende echte "Antonias" gibt. Durch den realen Hintergrund des Loveparade-Unglücks und anschauliche Schilderungen bestimmter Momente (beispielsweise die Festival-Musik, die im Gedränge noch zu hören war) wird der Film noch eindrücklicher. Mit Jella Haase wurde eine richtig gute Hauptdarstellerin gefunden, die alle Seiten an Antonia lebendig werden lässt. Lediglich die unausgereifte Figur Sascha und das platte Ende erinnern daran, dass es sich bei "Das Leben danach" um Fiktion handelt.


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